Gleichsprachige Fremde
Angelika Overath: Die Farben des Schnees
Der Standard, Juni 2011
Emigrantenschicksale sind en vogue. Meist geht es um die Integration der Anderen in unsere Kultur. Wir vergessen, wie sehr wir einst auch Auswanderungsland waren. Stets aber lief und läuft der Erfolg über die Sprache. Was, wenn sich eben die neue fremde Sprache als widerborstig erweist? Gerade einem Menschen, der für und durch die Sprache lebt?
Angelika Overath hat früh durch ihre poetischen Reportagen beeindruckt. Nach einem Roman über eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung (Nahe Tage) und einem über einen kosmopo-litischen Nichtort (Flughafen- fische) ist sie in ihrem neuen Buch zu einer Art literarischer Reportage zurückgekehrt. Es ist ein poetisches Journal durch die vier Saisonen eines Jahres in einer neuen, fremdsprachigen Heimat.
Das Tübinger Intellektuellenpaar – Overaths Mann ist Dozent – zog nicht aus Karrieregründen an einen anderen, renommierten Uni-Standort, sondern siedelt in ein Dorf um, viele Stunden entfernt von der nächsten größeren Stadt. In eine Fremde, die zumindest geografisch nicht so fern liegt – ins rätoromanische Sent am Inn, ein paar Kilometer jenseits der österreichischen Grenze.
Den Zuwanderern bläst ein rauer Wind entgegen, nicht metaphorisch, sondern real klimatisch. Auf 1450 Meter Höhe herrscht der Winter sieben Monate, in unzähligen Farbschattierungen. „Wenn alles weiß ist, wird das Auge farbempfindlich. Schneeschatten, bläulich, grau, rosa, pfirsich.“
Und doch geht es um mehr als nur die Farben des Schnees. Die unprätentiöse Sprachvirtuosin ertastet mit Worten die neue Heimat. „Eine flammende Birke. Noch sind die Lärchen grün, aber bald brennen die Hänge bis hinauf ins Blau.“ Overath beobachtet, aber nimmt auch teil, denn die Familie lebt nun da, wo sie früher Urlaub machte.
Zur Jagdzeit sind keine Handwerker zu bekommen. Sogar Frauen gehen jagen. In der Herbstluft werden aus Feuchte Schneekristalle, aus Begegnungen wächst langsam eine neue Identität. Doch Overath zelebriert mit ihren Wahrnehmungen keine Poetisierung eines höheren literarischen Ich, sondern erschließt den Ort, seine Menschen, die Berge so schlicht wie atmosphärisch dicht.
Sie skizziert keine Idylle, sie beschreibt, wie sich mit dem Wintertourismus, den Zweitwohnungsbesitzern, mit der Spekulation das Dorfleben ändert. Die Senter werden nicht als Dörfler vorgeführt, sondern erscheinen als Biotop von Kosmopoliten, Architekten und Poeten. Die einstige Armut und Abgeschiedenheit trug – ein scheinbares Paradox – zur Weltoffenheit des Tales bei: Senter waren über Jahrhunderte selbst an zeitweilige Migration gewöhnt, als Randulins, Schwalben, vor allem nach Italien. „Der Mythos Engadin beruht zu 90 Prozent aus Fremdeinflüssen“, sagt denn auch ein Architekt.
Emigrantenschicksal, Sprache lernen: Overaths Migration ist, im Gegensatz zu jener verarmter Landbewohner in eine fremde Stadt, eine freiwillige. Das neue Leben, die Heimatfindung wirft dennoch Fragen auf, etwa ob der achtjährige Sohn in der Dorfschule optimal gefördert wird. Das „Senter Tagebuch“ (so der Untertitel) braucht keine Deutungsschnörkel. Das dichte Alltagsjournal ist nicht auf überhöhten Sinn angelegt – und dabei eine poetische Liebeserklärung an den Ort, seine Kultur, seine Menschen.
Es geht weder um Selbstdarstellung noch um Selbstmaskierung: Overaths literarisches Ich ist ident mit dem empirischen. Und doch wird das Ich neu geboren, in der Wahrnehmung, in „Lichtprotokollen“, nicht zuletzt mit der Sprache. Overaths Sohn hat ab dem ersten Schultag einsprachig rätoromanischen Unterricht und spricht das lokale „Vallader“ im Handumdrehen. Sogar ihrem Mann erschließt sich die Sprache als Fußballtrainer der Dorfjugend. Nur die Autorin selbst tut sich mit dem Rätoromanisch so schwer wie mit dem Klavierspielen – einem von den Eltern einst verwehrten Kindheitstraum.
Für beides wird sie von neuen Freundinnen an der Hand genommen, die sich dafür Zeit nehmen. Anflüge erster rätoromanischer Sätze der Autorin mischen sich mit einfachen Bach’schen Me- nuetten am Piano. Die Lernende „stolpert über Präpositionen“, erfreut sich an neuen Worten wie „Chadafö“ für Küche, eigentlich „Haus des Feuers“, und schreibt im zweiten Jahr erste Gedichte auf Romanisch.