Nona Fernández

Die Wände des Himmels

Nona Fernández: Der Himmel & Die Toten im trüben Wasser des Mapocho

Wiener Zeitung, Juli 2014

Die Chilenin mischt die grimmige Geschichte ihres Landes mit Träumen & Traumata. Sie erzählt bildstark und schnörkellos von Liebe und Selbsttäuschung

Eine Generation lateinamerikanischer Autoren löst sich aus dem Schatten von Übervätern wie Julio Cortázar, dessen Geburtstag sich diesen August zum 100. Mal jährt, oder des kürzlich verstorbenen Gabriel García Márquez, und sucht ihren stilistischen wie thematischen Platz. Umgekehrt fahnden Verlage nach einem neuen Roberto Bolaño. Der chilenische Schriftsteller hatte vor seinem frühen Tod noch eine junge Landsmännin mit den Worten „Diese schnörkellose Maßlosigkeit, dieser Mut!“ gepriesen: Nona Fernández ist eine der heute Vierzigjährigen, die auf ihre Eltern und die Zeiten der Diktatur zurückblicken, wobei sie Letztere nur in ihren Auswirkungen auf Familie und Gesellschaft erlebt haben.

In ihrem ersten Roman, „Die Toten im trüben Wasser des Mapocho“, mischte Fernández Schnipsel der grimmigen Geschichte des Landes von der Eroberung bis zur Militärherrschaft mit fantastischen Erinnerungen zwischen Wahrheit und Lüge, mit Träumen und Familientraumata vom Verschwinden, von Inzest und Selbstverstümmelung. Das alles erst aus der Perspektive einer jungen Toten in einem Sarg, der im Fluss durch Chiles Hauptstadt treibt, und dann als vielstimmige Befragung zwischen Wahn und Wirklichkeit. Fernández schrieb diesen – im doppelten Sinn – phantastischen Roman in Barce-lona, als ob sie die Distanz zum Schauplatz brauchte.

Das Umschlagbild des heuer erschienenen Erzählbandes „Der Himmel“ indes zeigt den Unterleib einer jungen Frau in zerrissenen Strümpfen. Hände und Beine umklammern eine Flasche. Der titelgebende Himmel ist nichts als der Splitter eines Spiegelbilds in der Gossenpfütze. Der Umschlagentwurf ist Programm: Die Figuren aller sieben Erzählungen sind kaum ihres eigenen Glückes Schmied, sondern haben eine Tendenz zur Selbstzerstörung: In „Blanca“, noch eine der versöhnlicheren Geschichten, geht die in die Heimatstadt zurückgekehrte Protagonistin nach dem Tod ihrer Großmutter in deren altem Mantel abends aus dem Haus – und begegnet der Jugendliebe ihrer Oma. Die Versöhnung des Greises mit der vermeintlichen Geliebten beruht auf einem Irrtum, in dem ihn die Enkelin belässt.

Fernández erzählt abgründige Geschichten von Erinnerungen, Liebe und Selbsttäuschung, von sozialem und gesundheitlichem Abstieg. „Das Blut fließt sämig und zäh“: In kurzen Sätzen, die zwischen Unmittelbarkeit, Lakonie und Poesie changieren, wird der Leser in eine Ästhetik allgegenwärtigen Verfalls gezogen. Die Autorin füllt die Abgründe nicht auf. Es geht um den Umgang mit Vergangenheit, doch keine der Erzählungen ist vordergründig politisch, und selbst die widerständigsten Figuren sind fern jeglicher Utopie.

1945 holte Gabriela Mistral als erste Lateinamerikanerin den Literaturnobelpreis nach Chile. 1971 folgte Pablo Neruda, der „Dichter der verletzten Menschenwürde“, wie die Stockholmer Akademie begründete. Wenn es stimmt, dass, je kaputter eine Gesellschaft ist, desto spannender die Literatur sei, dann haben der Nahe Osten, Somalia oder Pakistan Lateinamerika als Krisenregionen am Rande des Kollapses abgelöst.

Fernández sieht sich weit weg vom magischen Realismus, eher in der Tradition eines Jorge Luis Borges, doch ist ihr Schreiben keiner literarischen Strömung zuordenbar. Sie war Schauspielerin, ist Dramaturgin und – zwecks Existenzsicherung – erfolgreiche Fernseh-Drehbuchautorin, was in knappen Dialogen durchschimmert. Das Ergebnis ist eine ungemein visuelle Präsenz der psychologisch sparsam skizzierten Figuren. Somnambule Passagen wechseln mit solchen großer Klarheit. Abgesehen von bisweilen ironisch überzeichneter Tristesse sind Paarungen eine Gemeinsamkeit der Erzählungen, die weniger an besagten Himmel als an Danteske Höllenkreise denken lassen. Die Anti-Helden teilen die bitteren bis brennenden Erfahrungen des jeweils Anderen und bleiben sterbenslänglich ineinander verwoben.

Dennoch: Schreiben sei für sie „ein zärtlicher Akt“, so die Autorin. Das Frühwerk „Der Himmel“ der damals 29-Jährigen ist im Original bereits 2000 erschienen. Sie deutet hier eine Sprachmächtigkeit an, die sie mit „Mapocho“ sowie zwei weiteren Romanen eingelöst hat, von denen einer in Kürze auch noch auf Deutsch erscheinen wird.

Nona Fernández

Nona Fernández.

© Foto: Septime-Verlag

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Die Toten im trüben Wasser des Mapocho

Roman. Deutsch von Anna Gentz

Septime Verlag, Wien 2012, 256 Seiten, 21,50 Euro

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Der Himmel

Erzählungen. Deutsch von Anna Gentz

Septime Verlag, Wien 2014, 168 Seiten, 18,90 Euro

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