Wer uns die Augen öffnet, ist ein Verräter
Dragan Velikić: Bonavia
– oder vielmehr schwierige Wege. Poesie, Suade und kluger Essay in einem. Der vielleicht persönlichste
Roman des serbischen Autors
Wiener Zeitung sowie Glanz & Elend, September 2014
Die Zahl 14 hat eine Publikationslawine ausgelöst. Fast jeder Verfasser versucht, aus dem als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichneten Jahr und Krieg Lehren zu ziehen: über erhitzten Nationalismus, unzulängliche Friedensbemühungen, Fehlschlüsse, schief gegangenes Nationbuilding, Wiederholungen der Geschichte, über das Scheitern schlechthin. Krisen, Wahnsinn und Tod sind stets auch exzellenter Humus für die Kunst, meinen nicht nur Zyniker. Viel gute Literatur kommt heute aus Südosteuropa, manchmal mit etwas despektierlichem Beiklang verallgemeinernd auch »der Balkan« genannt.
Dragan Velikić ist neben David Albahari der im Deutschen Sprachraum meistübersetzte serbische Autor. Bonavia, Velikićs neuester Roman, kreist nicht um das Gedenkjahr 1914, doch kaum einer entschleiert die Verwerfungen der Gesellschaften Südosteuropas besser als Velikić. Während der Jugoslawienkriege der neunziger Jahre war er Journalist beim Radio B92 und der Wochenzeitschrift Vreme, in engagierter Opposition zum Milosevic-Regime. Von 1999 bis 2002 arbeitete er im selbstgewählten Exil in Budapest, Wien und Berlin.
Bonavia: nomen est omen?
Zwischen diesen Städten sind in Bonavia auch drei Hauptfiguren unterwegs, zwei Frauen, ein Mann. Sie sind Vertreter einer Generation serbischer Intellektueller, die sich allesamt von den Kriegen der 90er Jahre und dem damit verbundenen nationalistischen Wahnsinn ferngehalten haben. Bleiben? Gehen? war die Lebensabschnittsfrage junger Gebildeter, welche die Kriegsprofiteure in Politik und Wirtschaft verachteten. Ihre Heimat hatten viele aus unterschiedlichen Gründen verlassen; manche sind zurückgekehrt, und dennoch weiter ratlos unterwegs. Im neuen Serbien suchen sie ebenso Orientierung wie im EU-Europa oder in den USA. Marko, mit 45 noch hoffnungsvoller, aber wenig erfolgreicher Schriftsteller, verfasst Reiseführer. Marija ist seine seit der ersten Begegnung vor sechs Jahren in Budapest nicht unbedingt zufriedene Partnerin. Sie begleitete damals ihre Jugendfreundin Kristina bis hierher. Diese wanderte in die USA aus, während Marija zurück nach Belgrad ging, mit Marko.
Nun reist Marko mit dem Zug von Belgrad nach Wien, mit noch immer wachen Augen, offenem Geist. Aber er kann seine Gedanken und Assoziationen kaum bündeln, ist ein Sammler von Details. »Aus lauter Banalitäten knüpfte er ein Netz, das immer dichter wurde, und verstrickte sich selbst darin« sagt Marija über ihn. Er ist ein Träumer, wie auch andere männliche Nebenfiguren des Romans, etwa Markos Vater, der seit langem in Wien lebt. Die Frauen zwischen den langen Schatten der Vergangenheit wiederum scheinen die Pragmatikerinnen zu sein.
Private Schicksalswege kreuzen in Bonavia die großen Linien der Geschichte Südosteuropas im 20. Jahrhundert, und darüber hinaus. Durch die Dialoge und Gedanken aus der wechselnden Perspektive seiner Figuren webt Velikić Entwürfe. Nach und nach wird deutlich, dass die Muster alt sind, und vielfältige Wahrheiten wie Lügen ans Licht bringen. Velikić schöpft aus einem schier unerschöpflichen Reservoir an Bildern. Poetisch-märchenhafte Passagen wechseln mit nüchtern-lakonischen, oft in Bewegung, vorzugsweise aus dem Zug, einem von Velikićs Lieblings-Topoi. Der Romanplot ist eher dünn. Die Erkenntnisse sind es nicht.
»In den Kammern ihrer Seelen liegen die nicht entwickelten Negative ihrer Verbrechen«
«Langsam hauchen die achtziger Jahre ihr Leben aus”, schreibt Marko. »Und dann springen all die Armen und Trostlosen in die unvergängliche Zeit der Nation. Strömen zu den Fahnen, unter denen Verluste als Gewinne verbucht werden … Die Ketten elender Existenzen werden gesprengt, sie ergießen sich in den breiten Strom der Verlierer. In der Masse zweifelt keiner an der Richtigkeit des Weges. … Flüchtlingslager als Beitrag zur Zivilisation… Am Ufer fahren Vertreter der neuen Rasse: breite Nacken, austrainierte Muskeln, niedrige Stirn, … schlanke Blondinen, ewige BWL-Studentinnen auf dem Beifahrersitz … Der Innenminister redet den Mörder des Ministerpräsidenten mit ‚Mein Herr‚ an.«
Im fernen San Francisco surft Kristina unterdessen fast zwanghaft im Netz und schnaubt über ihr Belgrad: »Ein paar neue Gesichter, die alte Phrasen droschen; aufgebrachte Minister, die Journalisten bedrohten. Hinterhalte, Mord, bestellte Gerichtsurteile. Ein halbes Jahrhundert kommunistischer Brüderlichkeit wurde von Mafiaclans beerbt.«
Die vielfach gebrochenen inneren Monologe der Figuren klingen im Leser lange nach, mit ihrer Sprache, ihrer – gelegentlich allzu großen – Klugheit, ihrer Wut. Manchmal werden sie vom Erzähler noch erklärt – als ob der Autor der seinen Figuren poetisch innewohnenden Kraft und Vergeblichkeit nicht immer traut. Zu Unrecht, denn die Stakkato-Sätze treffen: »Heckenschützen sind wieder ruhige, gewöhnliche Bürger. In den Kammern ihrer Seelen liegen die nicht entwickelten Negative ihrer Verbrechen.«
Des Erzählers Blick ist ein durchdringender, von außen zurück auf Belgrad, aus Zügen, Hotels, aus Budapest, Wien, Boston, San Francisco. Der Blick der Roman-Protagonisten ist beladen mit Gedanken über Familiengeheimnisse, mit Erinnerungen an gute Zeiten am Balkan, Hoffnungen und Lieben, Verwerfungen, Krieg und Emigration. Das Exil ist bei den allermeisten Figuren durchwegs eines aus privaten oder wirtschaftlichen Gründen, etwa bei der sogenannten Gastarbeiter-Generation. Aber natürlich ist das Private schon bei den Eltern, Großeltern politisch. Die Ahnen rangen auch darum, Verantwortung zu übernehmen, oder abzustreifen. Im letzteren Fall ist die Strafe, dass auch von den Mitläufern niemand wirklich ankommt: ihre Blicke schweifen zurück, unfähig zu trauern. Einige verfallen der Demenz, haben »das Stumm-sein perfektioniert“, im verordneten historischen Gedächtnis einerseits, und im selbst auferlegtem Schweigegebot andererseits.
Was ist dabei geschichtliche Realität, was Fiktion? Wer hat tatsächlich gelebt, wer ist Romanfigur? Einerlei, nur selten erscheinen Bonavias Figuren etwas beladen, als Vehikel für Reflexionen und Einsichten über den Zustand des Landes Serbien.
Klarer Blick von außen
Die subtilen Beobachtungen und Diagnosen des Essayisten, Aufklärers und Romanciers Velikić beschränken sich nicht auf sein Heimatland. Spannend ist auch seine Außensicht auf Wien und dessen Selbstbild, der ungebrochenen Südosteuropa-Beziehungen und die beharrliche kakanische Mitteleuropanostalgie. Von 2005 bis 2009 war Dragan Velikić Serbiens Botschafter in Österreich. Ein herausragender Kulturvertreter als Diplomat – vielleicht ist das der beste Dienst, den sich ein nun demokratisches, wenn auch weiter schwieriges Land international erweisen konnte – in guter Tradition: Selbst nachmalige Literaturnobelpreisträger wurden einst von ihren Heimatländern als Botschafter entsandt, wie Octavio Paz von Mexico, Pablo Neruda von Chile oder Miguel Ángel Asturias von Guatemala.
Marko, Marija und Kristina versuchen zu entkommen, ohne anzukommen. In ihrer Einsamkeit in Boston und San Francisco zappt sich Kristina weiter via Internet nach Belgrad. Doch selbst wenn ihr Jugoslawien untergegangen sein mag: Die Herkunft wird sie nicht los. Dragan Velikićs geistige Heimat ist kein Nationalstaat. »Als ich den Mitteleuropapreis bekam, habe ich Mitteleuropa mit dem Wiener Kaffeehaus verglichen«, sagt er. »Das ist die Topografie Mitteleuropas: viele Völker, jedes an seinem Tisch, aber gemeinsam im selben Kaffeehaus.« Ohne Illusion, dass sich im Kaffeehaus immer alle wohlgesonnen sind. Velikićs bislang acht Romane wurden in 15 Sprachen übersetzt.
Trotz Zeitsprüngen und Perspektivenwechsel: Die Wege von Bonavias Hauptfiguren kreuzen sich noch einmal – fast. Kristina schafft es zurück bis Wien, wo sie – soviel sei verraten, an Gehirnschlag stirbt. Ohne dass Marija, die gerade ebenfalls im selben Hotel ist, davon erfährt. Und Marko hat Kristina noch am Tag zuvor ihren Koffer die Stiege ihres Hotels Urania hinaufgetragen, ohne sie zu (er)kennen.
Bonavia: Das ist, erfahren wir gegen Schluss, der titelgebende Name eines anderen Hotels, in Rijeka/Fiume. Bonavia, der gute Weg: der Neubeginn in ein bessere Zunft? Nicht zwingend. Velikić vermittelt vielmehr einiges an Illusionen seiner Figuren, ja an Vergeblichkeit. Auch sein jüngster Roman hat kaum sichere Antworten im Angebot, und keine Utopien.
»Wenn man ein gewisses Alter erreicht, gibt es nicht mehr Gut oder Schlecht, man stellt nur noch fest«, sagt in Bonavia gegen Schluss nicht mehr eine Figur, sondern der Autor. Nicht resignativ, aber doch abgeklärt. »Je älter ich werde, desto weniger erfinde ich. Der Stoff meiner Literatur stammt aus meiner Erfahrung. Authentische Literatur kommt immer aus persönlichem Erleben«, meinte Velikić kürzlich im Interview. »Das letzte Kapitel handelt von meinen Eltern, wie sie einander kennenlernten und das Leben zusammen verbrachten. Das ist der Ausgangspunkt meiner Fiktion in den vorangehenden acht Kapiteln.« Bonavia könnte so auch in der Gegenrichtung gelesen werden.
Grand Hotel Bonavia: In dem altehrwürdigen Hotel haben Velikićs Eltern übernachtet, nachdem sie sich kennen lernten. Hier, stellt sich der Autor vor, sei er gezeugt worden. Wäre er gerne. Es ist müßig, darüber zu befinden, welches von Dragan Velikićs Büchern am meisten von seiner Biographie inspiriert ist. Bonavia ist das vielleicht persönlichste, intimste. »Meinem Vater war alles recht. Er führte ein Leben en passant. Ohne große Ziele.«
Melancholie durchzieht auch die heiteren Episoden des Romans. Letztlich ist nichts von Dauer. Nicht einmal die Erinnerung. Bonavia: Der Name ist kein Omen, aber vielleicht ein Signal der Hoffnung für dessen Figuren – und den großen Erzähler Velikić selbst.
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Dragan Velikić: Bonavia. Roman.
Deutsch von Brigitte Döbert.
Hanser Berlin, 2014, 334 Seiten, 20,50 Euro.