Orpheus ohne Wiederkehr
Anna Mitgutsch: Wenn du wiederkommst
Wiener Zeitung, April 2010
Sie waren in einer Lebensphase, in der „die Jugend vorbei ist und das Alter noch nicht bedrohlich erscheint“. Gemäß den Regeln von Jeromes jüdischer Familie galt die Beziehung längst als gescheitert, selbst nach den Autonomieansprüchen des intellektuellen Paares: hier sein sexueller Freiheitsdrang, da ihr Bedürfnis nach zeitweiligem örtlichen Rückzug als Schriftstellerin, auch in die eigene Sprache.
Doch sogar nach der Scheidung versuchten die deutschsprachige Ich-Erzählerin und Jerome, ihr amerikanischer Mann, eine unkonventionelle Partnerschaft mit den Pendelmöglichkeiten globalisierter Mobilität. Nach dem stetigen Auf und Ab in 35 Jahren Beziehung, davon 20 verheiratet und 15 geschieden, hätte es nun ein vorsichtiger Neuanfang werden sollen. Wenige Tage nach der letzten Begegnung, mit der zitternden Aussicht auf eine Altersliebe, wird die namenlose Protagonistin durch einen Anruf ihrer Tochter aufgeschreckt.
Der Schmerz über Jeromes jähen Herztod, „erst ein jäher Stich, und wenn er ausklingt, wird er dumpf und endgültig“, durchläuft alle Stadien von Unglauben, Rebellion, Sehnsucht, Hadern bis zur Anklage; von Momenten der Bilanz und des Bedauerns über Ungesagtes, Ungelebtes bis hin zum Zweifel über die Lebensliebe, vielleicht auch Lebenslüge: ob Jerome, der Anwalt von Habenichtsen, der Schauspieler und ewige Verführer, sie seinerseits je so geliebt hat, wie sie dachte, hoffte.
Jeromes Familie ist Gastgeber während der Schiv´a, der traditionellen jüdischen Trauerwoche im Bostoner Haus des Paares. Die Ex-Gattin ist dabei ein Störfaktor. Sie wird bestenfalls als Mutter der gemeinsamen, mittlerweile erwachsenen Tochter Ilana geduldet. Die Gefühle einer Geschiedenen passen schlecht ins Ordnungsschema religiöser Konvention. Die Katholikin war zu Jeromes liberalem Judentum übergetreten, doch seine Familie hat sie nie wirklich akzeptiert.
Die Brüchigkeit von Beziehungen und Sprache zieht sich durch Mitgutschs Werke. Die Schlüsselfiguren erscheinen weniger als Kosmopoliten denn als Heimatlose, oft zwischen deutsch-österreichischen und jüdisch-amerikanischen Kulturkreisen. Die meisten Protagonistinnen in den nunmehr neun Mitgutsch-Romanen sind Persönlichkeiten mit fragiler Herkunftsidentität, Grenzgänger, die das Gefühl der Fremdheit in sich tragen, die die Heimat aufgeben und eine neue suchen.
Wie schon früher schont Mitgutsch auch hier weder die Ich-Erzählerin, die im Übrigen wenig über ihre eigene Ursprungsfamilie und ihr früheres Leben preisgibt, noch die Leser. Die Trauernde oszilliert zwischen schwebender Melancholie während nächtlicher Begegnungen mit ihrer ebenfalls schlaflosen Tochter und quälender Genauigkeit beim Aussortieren von angesammeltem Plunder und kostbaren Erinnerungsbruchstücken – bis angesichts der Fotos von Jeromes wechselnden Geliebten wieder die Erfahrungswut durchbricht. „Und dennoch: Ich würde ihm, auch mit dem Gewissen von heute, mein Leben ein zweites Mal anvertrauen, wir haben einander die Identität gegeben, die unsere eigene ist.“
„Vielleicht ist Trauer gar nicht anders möglich als in ritualisierten Formen, sonst wird sie zu maßlos, zu gefährlich.“ Das Ende des Trauerjahres wird zum endgültigen Abschied der Ich-Erzählerin vom Haus am Fluss, nämlich von ihrer Wahlheimat Boston, von den Fischerdörfern und den im Spätherbst einsamen Stränden der Ostküste, den Koordinaten von 35 Jahren gemeinsamen Lebens und erhoffter Zukunft. „Wir waren zum Schluss erst am Anfang, und auch die Liebe hatte gerade erst eine neue Gestalt angenommen.“
Eros und Thanatos, die Verknüpfung von Liebe und Tod – kaum ein anderes Thema beschäftigt Kunst wie Literatur so sehr wie die Ohnmacht vor Himmels- oder Höllenmacht. Umso größer ist die Gefahr, dass ein Autor klischeehaft-pathetisch daran scheitert. Anna Mitgutsch beweist jedoch ihre Meisterschaft, wenn es gilt, sprachgewaltig nach dem Unsagbaren zu greifen: Eine Orpheus-Geschichte, allerdings ohne Wiederkehr, in welcher der Tote nur durch Worte wieder wachgerufen wird.
„Wer für den Tod Metaphern findet, war ihm nie wirklich nah genug.“ Obwohl Anna Mitgutsch ansonsten Bezügen zu ihrer Biographie wenig abgewinnen kann, gesteht sie ein: „Bei diesem Thema muss die persönliche Erfahrung vorangegangen sein.“
Dem eigenen Schmerz abgerungen, ist ihr mit diesem Buch eine berührende Wehklage gelungen.