Der Seidenkokon um eine dunkle Familiengeschichte – poetisch entwirrt
Madeleine Thien: Jene Sehnsucht nach Gewissheit
Juli 2009
Madeleine Thien löst den Seidenkokon um eine dunkle Familiengeschichte – und entwirrt die Fäden der Vergangenheit
Gail, eine junge Radiojournalistin, versucht, die Wahrheit über ihre Familie zu enträtseln. Diese stammt, wie jene der Autorin, aus dem vom 2. Weltkrieg verbrannten Südostasien. Gails Suche verzweigt sich in die Verästelungen ihrer Herkunft, von Malaya unter japanischer Besatzung über die Wirren indonesischer Unabhängigkeitsjahre bis zur fragilen Gegenwart der Überlebenden in Europa und Amerika. Thien entwirrt das verschlungene Netz heller und dunkler Fäden in Rückblenden, von den Kautschukplantagen Borneos über das Nachkriegsholland bis zur kanadischen Pazifikküste heute. Sie erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven, vom gewaltsamen Tod des Großvaters, eines Kollaborateurs aus Not; von dem, was zwischen einem Jungen – Gails schweigsamem Vater – und seiner Jugendfreundin war; und was ohne die Verheerungen von Krieg und Treubruch an der Liebe eines Lebens hätte sein können.
Verdrängung ist kein zweifelhaftes mitteleuropäisches Phänomen. Gerade ostasiatische Kulturen meistern eine Tradition der Sprachverweigerung bei Leid, Schuld, Trauma. Opfer und Täter, Geknechtete wie Missbrauchte eines Krieges schweigen; nicht aus pathologischem Vergessen, vielmehr, um seelisch zu überleben, um Partner und Kinder zu schonen. Scheinbar intakte Familienhülsen können das Erinnern nicht auf Dauer bergen. Fragen nach der Vergangenheit tauchen unerbittlich auf. Thien bricht die Hülsen nicht gewaltsam auf. Halb gelähmte Raupen der Erinnerungen wachsen nicht zu Dämonen, sondern verpuppen sich. Die Autorin löst den Kokon behutsam; Einsichten steigen wie Schmetterlinge auf. Und an den entwirrten, seidigen Fäden des Kokons lassen indonesische Kinder bunte Drachen steigen.
Trotz der bilderreichen Ausmalung des weiten Raums oft schmerzlichen Erinnerns meidet Thien gekonnt alle Tretminen von Exotik, Kitsch und Klischee. Und sie spannt die Überlebenden nicht auf das Prokrustesbett der im Nachkriegseuropa vielstrapazierten, politisch korrekten Vergangenheitsbewältigung. Die Figuren schrumpfen nie zu Trägern der großen Frage: was müssen wir von dunkler, oft schuldbeladener Vergangenheit kennen? Was eignen wir uns an, ohne es zu wissen; wie überleben wir mit der Ahnung vielleicht schuldiger Großväter, mit schmerzlicher Gewissheit über die zerstörte Kindheit der Eltern, ihren alten Lieben, Verlust und Trauer. Erst Gail, die Enkelgeneration, kann ohne selbstgerechten Beschuldigungseifer über Leid und mögliche Untaten resümieren; ohne offene Rechnung mit Vätern; und kann so das Mitgefühl Verschonter für verirrte Ahnen aufbringen.
Der in 15 Sprachen übersetzte Debütroman der 34jährigen Kanadierin mäandert zwischen Orient und Okzident. Thien betreibt dunkle Magie, wirbt der Verlag für den Roman, der dennoch keine schwere Moritat von Schuld, Verdrängung und Sühne ist. Sie beweist, dass intime Leichtigkeit und tiefe Weisheit kein Widerspruch sind. In poetischen Bildern heiterer Melancholie verbindet Thien drei Generationen bei ihrer Suche nach Wahrheit und Vertrauen. Eingestreute philosophische Dialoge überladen den Text nicht, sondern stärken das fragile Gewebe persönlicher Erinnerungen, machen es tragfähig.
Eine mitreißende Geschichte vom Überleben, Erinnern, von Trauer und vom Loslassen.
Luchterhand Literaturverlag
ISBN 9783630872544
302 Seiten, 19.95 €