Vosganian: Nur Wut und Hass erheben die Stimme
Vergessen als Monolog, Verzeihen als Dialog
Glanz & Elend, Dezember 2013
Man kann nicht gleichzeitig vergessen und vergeben.
Varujan Vosganian hat mit dem »Buch des Flüsterns« nicht nur dem armenischen Volk, sondern Millionen Geschundenen und Vertriebenen des 20. Jahrhunderts eine so gewaltige wie versöhnliche Stimme gegeben.
Armenien klingt oft wie das Synonym für für Tragödien von Erdbeben, Fremdherrschaft, Kriegen, Massakern, von Massenexodus bis Völkermord. Hajastan, wie das Land in seiner Sprache heißt, macht dem Volk Israel den Rang als meist geprüftes Volk Gottes streitig – und ist doch seinem christlichen, launischen Gott durch alle Prüfungen treu geblieben.
Flüstern kann zaghafte Vertrautheit bedeuten, Intimität, Liebe, weil zwei Menschen, die sich nahe sind, nicht schreien müssen. Allzu oft steckt im Flüstern aber begründete Angst vor Verrat und Verfolgung.
»Ich bin vor allem das, was ich nicht vollenden konnte.« Was für ein erster Satz für die folgenden 500 geraunten, geklagten, gelebten Seiten eines Romans. Wo soll man ansetzen? Bei der Sprache, die den Leser mit dem ersten Satz in Bann schlägt? Beim Sog von Bilder und Figuren, der Magie, mit dem es in die Labyrinthe der Geschichte einer Familie und eines Volkes zieht?
Der Erzählstrom des »Buch des Flüstern« beginnt als melancholische Schilderung im Armenierviertel von Focşani in der rumänischen Moldau-Provinz, wo der Autor aufwuchs, einem Dorf als sprichwörtlicher Nussschale der Welt. Ich spielte unter dem Tisch im Hof, wenn die Alten erzählten, heißt es bald. »Schickt das Kind hier weg«, sagte manchmal eine der Tanten.« »Lass es da, sagte Großvater. Immer bleibt einer übrig, der erzählt. Vielleicht wird gerade er einmal der Erzähler sein.«
Jenes Kind unter dem Nussbaum also ist der Erzähler des Schicksals einer Familie, eines Volkes, von Menschen, die manchmal als Händler freiwillig Kosmopoliten waren und es zu Wohlstand und Ansehen gebracht hatten. Oft aber war die Migration höchst unfreiwillig. »Meine Großväter haben aus ihrem Jahrhundert bloß verstanden, wie schwer es ist, in der gleichen Erde zu sterben, aus der man geboren wurde.«
An den Quellen von Arax, Euphrat und Tigris wurde der biblische Garten Eden angesiedelt. Am Ararat soll Noahs Arche gestrandet sein. Die Grenzen Armeniens wurden schon über die Jahrhunderte verschoben, das Volk vertrieben und an den Rand der Auslöschung gebracht. Ein Geschichtsatlas benötigt 60 Karten, um die zahllosen historischen Wechsel darzustellen, vom äußersten Rand Europas über den zerklüfteten Kaukasus, ans Mittelmeer und nach Syrien, durchkreuzt von den alten Handelsrouten zwischen Morgen- und Abendland. Armenien hat babylonische, römische, byzantinische Heerführer, arabische Kalifen, mongolische Khans, persische, osmanische und zuletzt die sowjetische Herrschaft überdauert. Nur der 5130 Meter hohe, eisbedeckte Berg Ararat blieb eine Konstante, Bezugspunkt der Diaspora und kollektives Symbol armenischer Identität.
Der kleine Armenierjunge in der rumänischen Diaspora hört Geschichten in einer rauen, an Klagemelodien erinnernden Sprache, die ab und an zum Flüstern wird. Ein Kind, das bereits groß geboren wurde, wegen der vielstimmigen Geschichten und der Geschichte seines Volkes. Ein Heranwachsender, der die Gerüche der Menschen atmet, ihrer Gewohnheiten, die Traditionen der in alle Winde zerstreuten oder ausgelöschten Vorfahren. Soll man also bei den Gerüchen ansetzen? Hundert Leben kann ein Buch allein über Aromen erzählen, vom Kaffee unter dem Nussbaum im Garten der Kindheit, der Speisekammer der Großmutter, dem Wandschrank mit den modrigen Kleidern über die kindlichen Verstecke bis zu den Erzählungen über Morast der sibirischen Steppe oder den Staub einer mörderischen Wüste, jener arabischen Ödnis um Deir-ez-Zor, die für eine Million Armenier den Abstieg ins Inferno bedeutete.
Der Erzähler schöpft für die Durchquerung der Danteschen Höllenkreise aus der Wirklichkeit des Genozids von 1915 und vermittelt mit poetischer Kraft, doch ohne Predigt, ohne Pathos, im Gegenteil: gerade hier wird sein Erzählduktus zu einer lapidaren Litanei, die ihre Kraft aus dem mechanischen Rhythmus gewinnt. Deir ez-Zor, der Ort des Grauens am Euphrat, liegt absurderweise am Rande des biblischen Paradieses von Adam und Eva, oder vielmehr von Kain und Abel. Die Deportation wird zum Sinnbild der wiederholten Vertreibung der Menschen aus dem Garten Eden.
Der Ich-Erzähler selbst bleibt im Hintergrund, ist Chronist der Ereignisse, der oft grausamen Details und der Dutzenden Schicksale. Vosganians Schreiben ist eine Beschwörung der Toten, sowie der Ängste und Schmerzen der Überlebenden, die von den Stimmen und Bildern der Verhungerten und Erschlagenen heimgesucht werden.
Geschichte schreiben meist die Sieger. Vosganian erzählt von jenen, die Geschichte erleiden, von ihrem Beharren, weiterzuleben, auch wenn es nichts mehr zu hoffen gibt. Heißt es manchmal zu Beginn eines Romans, »alle Personen, Schauplätze, Ereignisse und Handlungen sind frei erfunden,« so sagt Vosganian: »Ich habe nichts erfunden. Leid muss nicht durch Imagination vermehrt werden. Ohne den Beweggrund der unerbittlichen Realität hätte ich nicht gewagt, darüber zu schreiben.« Setrak, der eine Großvater des Erzählers, verkörpert die absurden Stationen eines einzigen Lebens, das sich jeder Logik verschließt: Als Kind von seiner Mutter für ein Säckchen Mehl verkauft, damit zumindest ihre Tochter, seine Schwester durchkommen kann, wird er entrechtet, versklavt, rekrutiert – und überlebt schließlich. Garabet, der andere Großvater, personifiziert das Gedächtnis und die Weisheit vieler Generationen.
Armenische Geschichten sind selten von einer ersprießlichen Art. Mit der Berufung eines antiken Rhapsoden, der Poesie eines orientalischen Geschichtenerzählers, dem Schmerz eines Psalmensängers und der Nüchternheit eines europäischen Romanciers zieht uns der Autor mit epischer Kraft in ein Geflecht von Einzelschicksalen voll Abgründen, Verrat, Vorteilsnahme und Verstrickung in totalitäre Systeme. Er erweckt wie spielerisch Charaktere, die bei einem mittelmäßigen Schreiber schwarz-weiß-gezeichnete Figuren hervorgebracht hätten. Er zieht sprachmächtig literarische Register, manchmal tieftraurig, tragikomisch, verstörend oder, wenn die Intensität allzu quälend wird, unsentimental lakonisch, heiter oder ironisch. Erinnerungsfäden aus Küche und Kriegen, Kultur, Religion und Barbarei, Liebe und Verrat werden zu einem Teppich, einem Werk von phantastischem Realismus.
Vosganian hat eine fast altmodisch-magische Art des Erzählens. Ohne die Geschichte in sinnlichen Metaphern zu ersticken, wählt er starke Bilder, wie jenes von sterbenden Pferden auf einem von Siegern und Besiegten verlassenen Schlachtfeld. Der einzige Sieg der benutzten Tiere wäre das Überleben – was nur ohne Krieg möglich ist.
Literarische Vergleiche drängen sich auf, etwa mit »Hundert Jahre Einsamkeit« des Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez. Auch Phrasen werden für das 2009 in Rumänien erschienene, bereits vielfach übersetzten und nun von Ernest Wichner – dem aus dem Banat stammenden Leiter des Literaturhauses Berlin – hervorragend ins Deutsche übertragene Buch bemüht: Ein monumentales Werk, ein epochaler Roman. Hundert Jahre nach dem Völkermord, 80 Jahre nach den »Vierzig Tagen des Musa Dagh« ist das »Buch des Flüsterns« nun im gleichen Verlag erschienen wie einst Franz Werfels Roman, der den Völkermord an den Armeniern erstmals literarisch verarbeitete.
Doch das Buch ist noch mehr. Für den in seiner Heimat Rumänien umstrittenen Politiker Vosganian steht die armenische Diaspora stellvertretend für alle Abermillionen »Nansenianer«, die mit einem Nansen-Paß ausgestatteten Vertriebenen, auch für alle geschundenen Menschen und Völker des in dieser Hinsicht unseligen Jahrhunderts der Ideologien als Machtmittel, der Weltkriege, Vertreibungen, Konzentrationslager, der anonymen Massengräber. Vielleicht hat jenes »kurze 20. Jahrhundert«, wie im Einnerungsjahr 2014 noch öfter zu hören sein wird, nicht 1914 begonnen, sondern 1915, mit dem Genozid an den Armeniern. Und vielleicht hat es nicht 1989 geendet, sondern 1994, mit dem Völkermord in Ruanda. Dass wir allerdings mit Francis Fukujamas oft missverstandenem Diktum vom »Ende der Geschichte« dieses Ende nicht erreicht haben, wissen wir längst. Zuletzt sind im Syrien-Krieg wieder 20 000 Armenier aus Aleppo nach Eriwan geflüchtet.
Wie also wird Geschichte weiter gegeben? Wie prägt sie uns? Wer verteidigt die Zukunft der Überlebenden aller Seiten gegen die Macht der durchaus unterschiedlich wahrgenommenen Vergangenheiten? Armenier sind besessen von Geschichte, von einstiger Größe und biblischen Heimsuchungen. Die Bandbreite könne nur Kultur beschreiben, betont Vosganian. Es gäbe keine große oder kleine Kultur, nur bekannte oder unbekannte. Messen kann man sie weniger an einer imaginierten Höhe als an ihrer Tiefe, wie einen Brunnen.
War der Autor in der Schilderung einer Familie, eines Volkes ja einer Epoche zu ambitioniert? Bricht die Poesie unter der Last der Botschaften zusammen? Nein. Es ist ein Roman, der auch von den drei Wegen des Umgangs mit Unrecht erzählt: Erstens von der Rache, etwa der Operation Nemesis in den zwanziger Jahren. Zweitens vom Vergessen, und schließlich von der Vergebung. In der Rache gibt es keine sinnvolle Arithmetik. Zwei Tote gegen zwei Tote ergeben nicht hochgerechnet Null, sondern Vier, meint der Autor. Vergessen ist ein Monolog, Vergebung dagegen ist ein Dialog. Dieses Verzeihen verlange die meiste Verantwortung. Aber dafür brauche es Akzeptanz.
Zwischen Opferstatus und Größenwahn fehlt allen davon »Betroffenen« der Weltgeschichte das Verständnis, selbst auch Täter zu sein – den Armeniern etwa im Falle des Konfliktes mit Aserbaidschan um Bergkarabach. Selbst die Türkei sieht sich als Opfer in historischer Kontinuität. Jungtürken hatten einen homogenen Nationalstaat angestrebt. Armenier, Griechen, Slawen und später Kurden wurden als Werkzeuge des Westens angesehen, um selbst den Kern der türkischen Nation – Anatolien – zu zerstückeln. »Tragische Ereignisse im Zuge des Ersten Weltkriegs« ist das Maximum an Eingeständnis der offiziellen Türkei zum Tabu Völkermord, der zielbewussten Zerstörung einer ethnischen oder religiösen Gruppe wie eben der Armenier. Mit welchem Aufwand der Staat seine angesichts aller Dokumente absurde Position vertritt, ist schwer nachzuvollziehen.
Zwei Millionen Armenier lebten vor hundert Jahren im Osmanischen Reich. In Türkisch-Armenien gibt es heute überhaupt keine mehr. 70.000 harren in Istanbul aus, sitzen nach dem Mord am Publizisten Hrant Dink im Januar 2007 auf gepackten Koffern. Mit diesem Fanal endet auch das Buch des Flüsterns.
Literatur sollte keine moralische Botschaft zum Ziel haben. Was nach 500 Seiten bleibt, ist aber doch eine Erkenntnis: Wir haben all die Kriege, Massaker, Gräuel überlebt, wir Armenier, Europäer, Menschen. Und wir haben nun die Pflicht, menschlich zu sein, trotz oder gerade wegen all dem, was wir erduldet und einander angetan haben. Nur wenn wir darüber sprechen, haben diese Opfer der Geschichte einen Sinn und lassen hoffen, dass eine Wiederholung des Unrechts ausgeschlossen ist.
»Man kann nicht gleichzeitig vergessen und vergeben.« Der Aufbau von Vertrauen braucht Ruhe. Und verlangt manchmal Flüstern. Nur Wut und Hass erheben die Stimme.
ISBN 978-3-552-05646-6
Zsolnay Verlag 2013