Varujan Vosganian: Buch des Flüsterns

Vergessen, Rache – oder Vergeben

Varujan Vosganian: Buch des Flüsterns

Wiener Zeitung, Dezember 2013

Buch der Finsternis

DSC09213In der Rache gibt es keine sinnvolle Arithmetik: Zwei Tote gegen zwei Tote hochgerechnet ergeben nicht Null, sondern Vier. Varujan Vosganian gibt der armenischen Diaspora und dem 20. Jahrhundert eine neue Stimme.

„Ich bin vor allem das, was ich nicht vollenden konnte.“ Welch erster Satz für die folgenden 500 geweinten, geklagten, geraunten Seiten! Wo soll man ansetzen bei einem überwältigenden Buch? Bei seiner Sprache, die mit einem Sog von Bildern und Figuren in das Labyrinth seiner Geschichte zieht? Bei der Weisheit, die es entfaltet?

Der armenisch-stämmige, rumänische Wirtschaftswissenschafter, Politiker und Autor Varujan Vosganian hat mit seinem „Buch des Flüsterns“ einen epochalen Roman vorgelegt. Der Erzählstrom beginnt als pittoreske Schilderung im Armenierviertel von Focşani in der rumänischen Moldau-Provinz, wo auch der Autor seine Kindheit und Jugend verbrachte:

„Ich spielte unter dem Tisch im Hof, wenn die Alten erzählten. Schickt das Kind hier weg, sagte eine der Tanten. Lass es da, sagte Großvater. Immer bleibt einer übrig, der erzählt. Vielleicht wird gerade er einmal der Erzähler.“ – Ein Kind, das bereits groß geboren wurde, wegen der vielstimmigen Geschichten über die in alle Winde zerstreuten oder ausgelöschten Vorfahren, in einer rauen, an Klagemelodien erinnernden Sprache, die ab und an zum Flüstern wird.

Familien-Diaspora

Die vom Jungen gesammelten Briefmarken spiegeln die Familien-Diaspora der Überlebenden. Da finden sich Libanon-Zedern, der amerikanische Adler mit ausgebreiteten Flügeln, die finsteren Züge Abdel Nassers oder, mit schräg stehenden, misstrauischen Augen, Lenins Kopf. Die Stempel lassen den kleinen Sammler an Wagenräder denken, die über steinige Straßen poltern, im Sand versinken, mit Reif überzogen sind, oder schwarz vor Morast. Wenn die Trecks nicht überhaupt Fußmärsche nach Deir ez-Zor waren, in den Tod der arabischen Ödnis.

Jener Gang in die Wüste, die Durchquerung der Dantesken Höllenkreise ist der Abstieg ins Inferno des Genozids an den Armeniern von 1915, vermittelt mit poetischer Kraft, ohne Predigt: Gerade hier wechselt der Stil in eine lapidare Litanei, die ihre Kraft aus dem mechanischen Rhythmus schöpft. Deir ez-Zor, der Ort des Grauens am Euphrat, lag absurderweise am Rande des imaginären Paradieses von Adam und Eva, oder vielmehr von Kain und Abel. Die Deportation wird zum Sinnbild der wiederholten Vertreibung der Menschen aus dem Garten Eden.

Das Kind des 20. Jahrhunderts unter dem Nussbaum im Elterngarten also ist Chronist von heiteren Anekdoten und Dutzenden erbärmlichen, absurden, grotesken Schicksalen einer Familie, eines Volkes, das manchmal als Händler freiwillig kosmopolitisch war. Meist aber war die Migration erzwungen. „Meine Großväter haben aus ihrem Jahrhundert bloß verstanden, wie schwer es ist, in der gleichen Erde zu sterben, aus der man geboren wurde.“

Beschwörung der Toten

Vosganians Schreiben ist eine Beschwörung der Toten wie auch der Ängste der Überlebenden, die sich nach so viel Fluchten verausgabt haben und nun von den Stimmen und Bildern der Verhungerten und Erschlagenen heimgesucht werden.

Geschichtsschreibung bezeugt Sieger. Varujan Vosganian erzählt von jenen, die Geschichte nicht bestimmen, sondern erleiden, von ihrem Beharren, weiterzuleben, auch wenn es nichts zu hoffen gibt. Heißt es oft zu Beginn eines Romans, „alle Personen, Schauplätze, Ereignisse und Handlungen sind frei erfunden“, so sagt der Autor Vosganian: „Leid muss nicht durch Imagination vermehrt werden. Ohne den Beweggrund der unerbittlichen Realität hätte ich nicht gewagt, darüber zu schreiben.“

Vosganian erzählt altmodisch-magisch. Er wählt Analogien, wie jene von sterbenden Pferden auf einem von Siegern und Besiegten verlassenen Schlachtfeld. Der einzige Sieg der missbrauchten Tiere wäre das Überleben – was nur ohne Krieg ginge.

Armenische Geschichten sind selten von einer ergötzlichen Art. Mit der Berufung eines antiken Rhapsoden, der Poesie eines orientalischen Geschichtenerzählers und der Klarheit eines europäischen Romanciers zieht uns der Autor mit epischer Kraft in ein eng gewebtes Geflecht von Einzelschicksalen, Gefühlen, Abgründen und Verstrickungen in totalitäre Systeme. Er erweckt wie spielerisch einen Reichtum an Charakteren, die bei einem mittelmäßigen Schreiber schwarz-weiß-gezeichnete Figuren ergeben hätten. Er zieht sprachmächtig literarische Register, manchmal tieftraurig, tragikomisch, verstörend oder, wenn die schicksalsschwere Intensität allzu quälend würde, lakonisch oder ironisch. Erinnerungsfäden aus Küche und Kriegen, Kultur, Religion und Barbarei, Liebe und Verrat werden zu einem Teppich von phantastischem Realismus.

Vergleiche drängen sich auf, etwa mit „Hundert Jahre Einsamkeit“ des kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez. 100 Jahre nach dem Völkermord an den Armeniern, 80 Jahre nach Franz Werfels Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ ist das „Buch des Flüsterns“ für manche bereits das Armenier-Epos schlechthin.

Es ist sogar noch mehr. Für den in Rumänien umstrittenen Politiker Vosganian steht die armenische Diaspora stellvertretend für Abermillionen „Nansenianer“, mit einem Nansen-Pass (Reisedokument für Staatenlose, Anm.) ausgestattete Vertriebene. Ja sie steht für alle geschundenen Menschen des „Jahrhunderts der Wölfe“, wie die russische Autorin Nadeschda Mandelstam das 20. nannte, jenes der Ideologien als Machtmittel, der Weltkriege, Vertreibungen, Konzentrationslager, Massengräber.

Umgang mit Unrecht
In diesem Licht hat das „kurze 20. Jahrhundert“ nicht, wie im Gedenkjahr 2014 wohl noch öfter zu hören sein wird, 1914 begonnen, sondern 1915, mit dem Genozid an den Armeniern. Und es hat nicht 1989 geendet, sondern vielleicht 1994, mit dem Völkermord in Ruanda. Doch dass wir mit Francis Fukuyamas oft missverstandenem Diktum vom „Ende der Geschichte“ dieses Ende nie erreichen werden, wissen wir. Wie also kann die Zukunft all der Überlebenden gegen die Macht der unterschiedlichen Vergangenheiten verteidigt werden?

Das „Buch des Flüsterns“ erzählt von drei Wegen des Umgangs mit Unrecht: ausführlich von der Rache; vom Vergessen; und von der Vergebung. Vergessen ist ein Monolog, Verzeihen ein Dialog, meint der Autor. Das verlange die meiste Verantwortung. Dafür brauche es Akzeptanz von Opfer und Tätern. Diese sei erst möglich, wenn eine Wiederholung der Untaten ausgeschlossen ist.

Literatur sollte keine moralische Botschaft im Sinn haben. Bricht Vosganians Wortkunst unter der Last der Erkenntnisse zusammen? Nein. Was nach 500 Seiten bleibt, ist eine Einsicht: Wir haben all die Barbarei überlebt, wir Armenier, Europäer, Menschen. Und wir haben nun die Pflicht, menschlich zu sein, trotz oder gerade wegen allem, das wir erduldet und einander angetan haben.

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