Sympathisanten der Diktatur
Politische Pilgerreisen
Von der Hybris, besser zu wissen, was für andere gut ist
Wiener Zeitung
November 2013
In der Bewunderung diktatorischer Regime haben viele Intellektuelle des 20. Jahrhunderts eine Neigung zur Selbsttäuschung gezeigt. Die Hybris, besser zu wissen, was für andere gut ist, verband sich mit blinder Begeisterung. Und heute?
Drei Jahre alt war Peter Fröberg Idling, als er 1975 im Kinderwagen an seiner ersten Demonstration teilnahm. „Der Ami steckt die Prügel ein, heut Abend will gefeiert sein“, skandierten seine Eltern im Chor, und feierten die Einnahme Phnom Penhs durch die Roten Khmer. Das ferne kleine Land schien endlich befreit, bald darauf auch Vietnam und Laos, vom französischen Kolonialismus, vom amerikanischen Imperialismus und seinen korrupten Helfershelfern.
Die Idee der Revolte
Spätestens 1968 hatten die USA ihr Kapital an Vertrauen aus dem Zweiten Weltkrieg verspielt. Die Befreier von einst waren Unterdrücker, vor allem in der Dritten Welt, von Guatemala über den Kongo, Kuba bis Vietnam. Europas Städte brodelten, die Matrizendrucker liefen heiß. Demonstrationszüge, zu einem sozialdemokratischen Ritual erstarrt, arteten in Krawalle aus. Auch das Sowjetmodell bot nach den Gräueln der Stalinzeit wenig Alternative. Zurück zu den Wurzeln von Marx hieß die Devise, hin zu neuen Modellen in China und Indochina, das von den Schützengräben des Kalten Krieges durchzogen wurde.
Getragen wurde der Aufstand der Jungen in der so genannten Ersten Welt nicht nur von radikaler Ideologie, sondern auch von echtem Mitgefühl mit niedergebombten Kambodschanern und Vietnamesen, die, mit Napalm übergossen, wie Fackeln brannten. 1968 lebte die Revolte – zumindest als Idee. Der Aufruhr von Paris bis Tokio war nicht lokal. Schon vor der heutigen Globalisierung dachte sowohl die Rechte mit der Dominotheorie als auch die Linke in ihren Revolutionsträumen global: Nach Hannah Arendt seien Revolutionen keine beschleunigte Reform, sondern radikaler Wechsel. Doch sei das Ziel ein Mehr an – auch individueller – Freiheit. Davon konnte bei so mancher Revolution keine Rede sein, am wenigsten in Kambodscha nach 1975. Das 20. Jahrhundert ist voll mit mörderischen Diktaturen. Reihungen nach Opferzahlen sind grotesk, doch ist unstrittig, dass die Herrschaft der Roten Khmer eine der schonungslosesten war. Die wenigen Menschen, denen die Flucht gelang, berichteten von Deportationen der Bevölkerung aufs Land, von Liquidierungen und kaum vorstellbaren Gräueln.
Der Film-Essayist Rithy Panh – 1975 kaum 13 Jahre alt – rollt in seinem heuer auf Deutsch erschienen Bericht „Auslöschung“ lange Gespräche mit Kaing Guek Eav, dem als „Duch“ schaurig bekannt gewordenen Direktor des Foltergefängnisses S 21 in Phnom Penh aus: Der leutselige alte Herr rechtfertigt, verharmlost, lügt, strickt an Legenden. Rithy Panh kämpft filmisch-poetisch gegen das Schweigen und Vergessen an, mit dem sich alle Peiniger der Welt seit je zu schützen suchten; auch gegen das gewinnende Lächeln des Massenmörders Duch, ähnlich wie jenes, das Pol Pot – dem Bruder Nummer 1 in Orwellschem Newspeak – nachgesagt wurde.
Entgleiste Revolution
Revolutionen haben eine Tendenz, zu entgleisen. Exzesse mit Millionen Toten im Holocaust und Gulag wurden lange nicht den neuen Machtstrukturen angelastet, sondern Einzelnen. Bei uns Hitler, in der Sowjetunion Stalin, in China Mao und der Viererbande. „Massaker gehören zu Revolutionen,“ geht Rithy Panh in seiner Analyse einen Schritt weiter: „Wer den Umsturz einer Gesellschaft fordert, weiß das genau, und wird die Gewalt nie verurteilen.“ Die Schätzungen zur kambodschanischen Massenvernichtung reichen von einer bis drei Millionen, erschossen, erschlagen, in Arbeitslagern verhungert. Wurden die Irrtümer von den einst Revolutionsbegeisterten im Westen auch eingeräumt? Längst erwachsen, stieß Peter Fröberg Idling in den neunziger Jahren im kleinen Büro einer schwedischen Menschenrechtsorganisation in Phnom Penh auf „Kampuchea zwischen zwei Kriegen“, den Bericht einer Vierergruppe schwedischer Linker, die im Sommer 1978 Kambodscha besucht hatte. Auf Einladung der Regierung? Das Land war doch hermetisch abgeschottet? Neugierig geworden, begann Fröberg den begeisterten Reisebericht zu lesen. Die zwei Frauen und zwei Männer hatten damals Kollektive besucht, Errungenschaften bewundert, in ausgesuchten Gemeinschaftsspeisesälen mit dem Volk gegessen und dann des Abends ganz privat mit Pol Pot und Ieng Sary Austern verkostet. Massenmord, Zwangsarbeit, hungernde Menschen? Nichts davon stand im Bericht. Fröberg will verstehen. Für eine beginnende Recherche fragt er bei den vier Reisenden von damals an. Jan Myrdal, einst Leiter der Gruppe und einflussreicher Linksintellektueller, verweigert ein Treffen, sagt nur lakonisch am Telefon: „Ich sah, was ich sah. Und darüber habe ich geschrieben.“ Was ihm gezeigt wurde. Was er sehen wollte? Nicht die Angst in den Augen der Gefolterten, die Traumatisierung der Überlebenden.
Rosarote Mao-Brillen
Für seine heuer auf Deutsch erschienene, literarisch-essayistische Reportage „Pol Pots Lächeln“ fuhr Fröberg der einstigen Route der Vier nach. Wie konnten sie quer durch einen Genozid reisen und sich blenden lassen? War es durch rosarote Mao-Brillen gefärbter Idealismus? Fanatismus? Konnten sie nichts bemerken, weil ihnen die Wahrheit mit einer Kulisse aus Potemkinschen Dörfern verstellt war? „Sahen sie nichts? Wollten sie nichts sehen?“ fragt sich Fröberg und lacht heute im Gespräch über die Frage: „Ich habe fast 400 Seiten meines Buches gebraucht, um das zu beantworten.“ Die Vier waren stolz, auserwählt zu sein: Nur eine Handvoll westlicher Ausländer wurde von den Roten Khmer gegen Ende ihrer Herrschaft eingeladen, ihr Image im Ausland aufzupolieren. Sie sprachen die Sprache nicht, hatten dafür eine wohlwollende Einstellung gegenüber ihren Gastgebern, um es milde zu formulieren. Sie erwarteten einen großen historischen Entwicklungsschritt, an dem sie teilhaben würden: eine erfolgreiche Bauernrevolution, keinen steinzeitkommunistischen Terrorstaat. Kambodschas Weg erschien als Lösung für einen wahrhaft Dritten Weg jenseits von US-Imperialismus und sowjetischem Hegemonialstreben. Konnte es die Verblendung einer Generation und ihre Solidarität mit den geschundenen Ländern Indochinas sein, dass die Intellektuellen glückliche, autarke Bauern sehen wollten, und nicht nach den Verschwundenen fragten, darunter sogar der Ehemann einer der Reisenden?
Politische Pilgerreisen gingen einst in die Sowjetunion, nach Kuba, sogar nach Nordkorea. Aus Solidarität mit wahr gewordenen Utopien, die vielleicht noch nicht ganz perfekt waren, aber auf dem besten Weg, trotz aller vom Imperialismus in den Weg geworfener Prügel. Gab es Opfer? In Kambodscha? Ja, etliche mochte es gegeben haben: Ausbeuter, Kollaborateure, Spione, Saboteure. Wo gehobelt wird, da fallen Späne: der Schrecken als Schattenseite der Revolution nach Hegel. Doch der Zweck heiligt die Mittel. Im Namen des Kollektivs wird die Freiheit des Einzelnen bedeutungslos. Die Räumung der unreinen Städte sollte zu Beginn der radikal angelegten Revolution Tabula rasa machen. Auch die vier Schweden teilten diese Ansicht. Schweden, das in den 1970er Jahren eher als bequemer Versorgerstaat mit einem Hauch von Langeweile denn für Fanatismus bekannt war. Die eigenen Revolutionsträume wurden aus der saturierten Heimat in die Dritte Welt verlagert. Fröberg montiert Teile des Reiseberichtes, Beobachtungen, Pressemeldungen, Tagebucheinträge. In 265 Minikapitel getaktet, mischt er Reflexionen, biografische Details aus Pol Pots Leben, lakonische Aussagen von Opfern und Propagandasätze des Regimes zu einer packenden, hoch verdichteten und beklemmenden Collage mit dem Sog eines Thrillers. „Pol Pots Lächeln“ ist keine Abrechnung mit den 68ern, denen der Autor selbst entstammt. Er führt uns in ein Spiegelkabinett der Nach-68er-Jahre. Weit über Kambodscha hinaus veranschaulicht er die Dynamik politischer Selbsttäuschung. In Romantik und Gemeinschaftsgefühl wurde weniger die Praxis der Revolution gesehen, sondern ihr Pathos erspürt – das unbedingte Neue. Ideologien boten einfache Antworten für komplizierte Fragen und verblendeten damit ferne Täter wie auch intellektuelle Zaungäste.
Die Utopie war das, woran man entschied, zu glauben. Die Studentenbewegung forderte nicht nur für sich, sondern für alle: Die Revolution hatte den Gestus des Universellen. Im Sympathieüberschuss für Befreiungsbewegungen wurden in Sprechchören kollektive Rechte beschworen, die in den bequemen europäischen Städten reichlich abstrakt waren. Allzu oft führte es in die intellektuelle Hybris, zu wissen, was – für andere und weit weg – gut ist. „Welch ein Unterschied zwischen einem Tiger, der uns auf der Leinwand entgegentritt, und einem Tiger auf freier Wildbahn,“ schrieb der vor 300 Jahren geborene Denis Diderot über den Despotismus. Das Versagen der Intellektuellen wird immer wieder beklagt. Kaum je war es so drastisch wie bei Kambodscha, wo, wie der Historiker Philipp Blom meint, der in Paris politisierte „Rousseauschüler Pol Pot das Land in den Zustand ländlicher Unschuld zurückmorden wollte“: Eine scheinbar paradiesische Lösung, mit einem apokalyptischen Ende. Nicht in den radikalen Aufklärern wie Diderot, bedauert Blom, sondern in Rousseau oder Voltaire sehen viele die eigentlichen Verfechter der Menschenrechte. Rousseaus Philosophie hat nach Ansicht Bloms den Weg für die Unterdrückung des Menschen im Namen des „Guten“ geebnet, und damit totalitäre Regime des 20. Jahrhunderts wie eben auch Pol Pot ermöglicht. Aber auch die UNO hat die Roten Khmer nach deren Sturz durch vietnamesische Truppen noch beschämend viele Jahre als „legitime Regierung“ anerkannt.
Ende der Revolution?
Mit der iranischen Revolution Anfang 1979 – fast zeitgleich mit der Vertreibung der Roten Khmer – schien die politische Idee der Revolution zumindest im Westen tot. „Der Nimbus, der sie lange umgab, lag nicht in ihrer Praxis, sondern in ihrem Pathos, ihrer Gestik, ihrer Symbolik,“ meinte der Philosoph Konrad Paul Liessmann kürzlich in einem Vortrag beim Lucerne Festival. Die Revolution habe mit einer Inflation des Begriffes (in der Kommunikation, im Sex) den Schrecken verloren. Er sei beliebig geworden. Künstler zehren noch vom Gestus der Provokation, allerdings meist spielerisch. Der Rebell von einst, mit seiner Aura, den großen Gesten, dem Habitus ist nur noch eine Chiffre, eine sexy Ikone, und längst als Che-Guevara-T-Shirt in politischer Romantik ästhetisiert. Seit 1927 wählt das Nachrichtenmagazin „Time“ jeweils eine Persönlichkeit zur „Person des Jahres“, von Gandhi über Martin Luther King bis zu Gorbatschow und Obama. 2011 war es ein vermummtes, anonymes Gesicht: The protester. Doch große Visionen funktionieren kaum mehr, auch nicht die Befreiungsutopien durch eine globale Netzwerkgesellschaft im Internet. Durch die zunehmende Überwachung scheint eher das Gegenteil Wirklichkeit zu werden. Ist dies das Ende aller Utopien? In der islamischen Welt zum Beispiel nicht, auch wenn uns antiliberale Visionen kaum gefallen. Immer wieder flackert Gewalt auch in marginalisierten europäischen Vorstädten auf. Seit den Protesten rund um eine WTO-Konferenz zur Jahrtausendwende in Seattle formiert sich das Aufbegehren einer neuen Generation als „Aufruhr der Ausgebildeten“, wie der Protestforscher Wolfgang Kraushaar die Aufstände gegen Banken, Lobbys und Korruption in den Zeiten der Postideologie nennt. Die Aufstiegsversprechen für die Mittelschicht haben sich in ein neues Armutsrisiko gewandelt. Im ständigen pursuit of happiness, der individuellen Verfolgung des Glücks, fühlen sich immer mehr Gruppen von den Möglichkeiten zur Erfüllung ausgeschlossen. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft unserer deregulierten, postmodernen Demokratie driften auseinander. Wir bekämpfen die Symptome globaler Ungleichverteilung an unseren Grenzen: Flüchtlinge rennen gegen eine Festung an. „Gleichzeitig schluckt der paradoxe Raum Europa das Aufbegehren“ – zitiert die Publizistin Isolde Charim den Philosophen Michel Pêcheux, und mache es zum Teil noch für sich fruchtbar. Protestbewegungen von der „Arabellion“ bis Stuttgart („S 21“ – eine ironische Kürzelgleichung mit dem kambodschanischen Foltergefängnis) haben eine beachtliche Theorieproduktion angeworfen, meint Charim. Für die Kuratorin der Reihe „Demokratie reloaded“ ist ebendiese als labiles System immer in Gefahr.
Krisen und Wutbürger
Veränderung geschieht ununterbrochen, und immer schneller. Finanzkrisen, Flüchtlingsdramen, Ressourcenkonflikte, Umweltprobleme, Internetkontrolle: Lokale wie globale Herausforderungen des 21. Jahrhunderts verlangen nach Positionierungen. Persönliche Freiheit ist zwar selbstverständlich, doch scheint sie durch Überwachung auch latent bedroht. Verunsicherung mündet in Resignation über das System, oder in diffuse Empörung. Wutbürger aus der Mitte der Gesellschaft bringen das Unbehagen gegen ein ausgehöhltes „Repräsentationsspiel“ etablierter Demokratieformen auch in populistische, anti-aufklärerische Richtungen, hin zu scheinbarem wirtschaftlichem Expertentum à la Stronach oder Berlusconi, bis zu Heilserwartungen an eine Führerpersönlichkeit. Mit der Globalisierung und ihren Krisen besteht auch heute noch ein Hang zu obskurantistischen Verschwörungs- und Erlösungstheorien, nicht zuletzt im Internet. Nach Philipp Blom folgen wir tief drin weiter religiösen Mustern: Wenn wir in die unsichere Zukunft blicken, denken wir in Bildern wie Erlösung, oder fürchten die ökologische Apokalypse und erwarten in alarmistischer Angstlust das Ende der Geschichte – im Paradies oder in ewiger Verdammnis. Wir wollen eine große Lösung. Trotz Finanz-, Wirtschafts-, Globalisierungs- und Sinnkrisen aller Art: Revolutionen scheinen aus der Mode zu sein. Potential dafür sei selbst unter den Jungen nur gegeben, wenn man ihnen ihre Smartphones verweigere, mögen Zyniker einwenden. Doch das Verlangen nach Neugestaltung lebt und sucht neue Organisations- und Artikulationsformen. Das Projekt Aufklärung ist nie zu Ende. Selbst wenn schlüssige Manifeste für eine neue Weltordnung beiliquid democracy und den flashmobs der virtual community noch kaum absehbar sind: Soziale Innovationen und Schritte aus der Ohnmacht zu neuen Formen politischer Partizipation werden nicht immer nur leise gesetzt. Für Diderot war die Vernunft allein nicht die Spitze des menschlichen Wesens. Aber sie sei eine Fertigkeit, der wir uns bedienen sollten; gepaart mit Empathie, sonst wären wir kalte Monster. Das sei genug, darauf eine Ethik aufzubauen, die helfen soll, das Leid zu minimieren. Gewürzt hat Diderot seine Ideen stets mit einer Prise anarchistischen Humors. Essay als PDF herunterladen Teil 2