Rohstoffe, geostrategische Interessen, Islam und Demokratie
Die Seidenstraße in neuem Gewand
Wiener Zeitung, Februar 2008
Die rohstoffreichen Gebiete Zentralasiens rücken zunehmend ins geostrategische Weltinteresse. Während der Islam weiter erstarkt, bleiben demokratische Prinzipien auf der Strecke.
Der klangvolle Mythos Seidenstraße, verstanden als Traumpfad früher Globalisierung, entzückt seit Jahrhunderten her die Phantasie des Abendlandes. Schon Rom importierte auf ihr schimmernde Luxuswaren, und spätestens seit Marco Polo zogen die geheimnisumwitterten Oasen Turkestans Abenteurer, Krieger und Geschäftemacher an. Aus Karawansereien entstanden prächtige Städte wie Samarkand, wo Scheherazade in Tausend und einer Nacht einen mordlüsternen Herrscher bezauberte. Buchara war die Heimat des Philosophen Avicenna, der den Sufismus inspirierte.
Im Zentrum der eurasischen Landmasse lag einst ein Schmelztiegel führender Völker, wie Indo-Arier, Perser, Mongolen, Chinesen, eine Tauschbörse geistiger und materieller Errungenschaften des Ostens, Westens und Indiens. Händlerheere brachten Seide, Tee, Teppiche, Jade, Lapislazuli, Glas, Papier, Gewürze, das Spinnrad, den Kompass sowie das Schießpulver nach Europa. Die Seidenstraße war auch Einfallsschneise für Hunnen, Araber, Türken und Dschingis Khans Mongolen.
Mit der Erschließung der Seeroute ab dem 16. Jahrhundert verlor der Landweg an Bedeutung. Der Transport per Schiff war schneller, sicherer und zollfrei. Im 19. Jahrhundert umging auch die transsibirische Eisenbahn das Geflecht alter Karawanenwege. Im 19. Jahrhundert, im „großen Spiel“ am asiatischen Schachbrett, gerieten britische und russische Machtinteressen aneinander. Russland, später die Sowjetunion behielten in Innerasien zwar die brutale Oberhand, rieben sich im Imperialismusdrang aber später in Afghanistan auf.
Zahnarzt als Präsident
Mit der Fragmentierung der Sowjetunion 1991 taumelten die fünf zentralasiatischen, moslemischen Unionsrepubliken eher unverhofft in die Selbständigkeit. Doch ohne die Gräuel der Unabhängigkeitskriege zwischen Balkan und Kaukasus, zumindest was die mehrheitlich turksprachigen Länder Kasachstan, Kirgistan, Turkmenistan und Usbekistan anbelangt. Nur das persischsprachige Tadschikistan geriet aufgrund historischer und ethnischer Verflechtungen mit Afghanistan in einen Bürgerkrieg, der 100.000 Tote forderte und erst 1997 friedlich endete: Das rohstoffarme Gebirgsland ist sowohl bei seiner Grenzverteidigung als auch durch Überweisungen seiner in Russland tätigen Gastarbeiter auf die einstige Kolonialmacht angewiesen.
In den neuen Republiken hielt sich eine spätkommunistische Nomenklatura mit nationalistischen Parolen und Repressionsmitteln an der Macht. Einzig im vergleichsweise liberalen Kirgistan wurde der erste Präsident Askar Akajew 2005 von einer „Tulpenrevolution“, die eher ein Putsch war, hinweggefegt. Fortschritte im Demokratielabor der Region erwiesen sich trotz zivilgesellschaftlicher Ansätze als Schimäre. Nach stark kritisierten Wahlen Ende 2007 sitzt auch in Kirgistan eine Funktionärskaste fest im Sattel.
In Turkmenistan ist nach dem Tod des bizarren Diktators Nijasow „Turkmenbaschi“ (= Führer aller Turkmenen) nun dessen Zahnarzt, der früher als Gesundheitsminister Aids lieber verbot als bekämpfte, der neue Präsident. Auch in Usbekistan landeten Marx- und Leninstatuen am Abfallhaufen der Geschichte und wurden durch Monumente für Tamerlan ersetzt. Andernorts alsTimur Lenk ob seiner Grausamkeit berüchtigt, hatte dieser sein mittelalterliches Reich bis Indien und vor die Tore Moskaus ausgedehnt. Der ethnische Mongole ist für die ohnmächtigen Untertanen des Präsidentenherrschers Karimov ein identitätsstiftender usbekischer Nationalheld.
Futurismus in der Steppe
Kasachstan, mit der dreißigfachen Fläche Österreichs das größte Land Zentralasiens und neben Russland und der Türkei das dritte Land, das sowohl in Asien als auch in Europa liegt, hat keine Berührungsängste mit einem anderen Mongolen: denn allerlei Produkte von Schnaps bis Zigaretten sind nach Dschingis Khan benannt. Dank Rohstoffhausse sind Kasachstans Wachstumsraten sehr hoch. Langzeitpräsident Nursultan Nasarbajew hat mit Astana eine futuristische Retortenhauptstadt in die Steppe gesetzt, die neuerdings auch die AUA anfliegt. In Astanas Parlament sitzen seit den Wahlen 2007 ausschließlich Nasarbajews Parteigänger. Über Jahrhunderte hinweg waren Mittelasiens Clan-Gesellschaften der autoritären bis despotischen Herrschaft von Khans und Kommissaren ausgeliefert. Die US-Waffengänge in Afghanistan und im Irak haben bewirkt, dass lokale Potentaten ihren eigenen „Krieg gegen den Terror“ und gegen den realen oder imaginierten Islamischen Fundamentalismus unbehelligt führen – und sich dabei aller Regimekritiker entledigen können.
Erstarkter Islam
Anti-westliche Strömungen haben in den letzten Jahren zugenommen, vor allem im Ferganatal. Diese fruchtbare Senke im Herzen Innerasiens wurde unter Stalin in drei Unionsrepubliken aufgeteilt und ist seit der Unabhängigkeit ein Fleckenteppich, zerschnitten von verminten Grenzen und zahlreichen Enklaven der Länder Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan. Nach dem Ende der Sowjetunion wurden die meisten Industriebetriebe geschlossen.
Die Baumwollwirtschaft schafft keine neuen Arbeitsplätze. Wasser ist knapp, die Böden sind durch Pestizide vergiftet und versalzen. Die prekäre Situation im mit zehn Millionen Einwohnern dicht bevölkerten Tal entlud sich in blutigen Zusammenstößen, und bald schlugen die sozialen Auseinandersetzungen in ethnische Konflikte und Grenzstreitigkeiten um. Die Monatslöhne betragen knapp zehn Euro – sofern es Arbeit gibt. Korruption und Drogenhandel mit Afghanistan florieren. Islamistische, aus dem arabischen Raum finanzierte Tendenzen finden unter der desillusionierten Jugend – die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 18 Jahre – zunehmend Anhänger.
Trotz aller Spannungen ist die geografische Mitte der eurasischen Landmasse eine im Vergleich zum Nahen Osten immer noch stabile Region. Der traditionelle Islam ist moderat, ihm hängt die Mehrheit der 65 Millionen Einwohner Zentralasiens an: im engeren Sinn der fünf ehemaligen Sowjetrepubliken; geografisch und historisch gehören die Mongolei, Teile Afghanistans, des Irans und Chinas dazu. Allerorts wird Newroz , das vorislamische Neujahrsfest, gefeiert
Groß-türkische Träume haben selbst in Ankara an Glanz verloren. Zentralasien braucht die Türkei nicht als Türöffner zu Finanzinstitutionen. Zentralasiens Wirtschaft profitiert, neben seiner Brückenfunktion bei der Verschiebung des globalen Kräftegleichgewichts Richtung Asien, von der Großmachtkonkurrenz um Energieressourcen. Wegen der anhaltenden Krisen im Nahen Osten sucht der Westen eine breitere Streuung der Produzenten zu erzielen – sowie Russlands Monopol der Gastransportrouten zu brechen. Die USA und China, aber auch Japan, Indien und Korea haben sich in Position gebracht, die russische Vorherrschaft in der Region herauszufordern.
Der Geschäftsgeist der Seidenstraße erwacht wieder. Die Zentralasiaten wollen nicht mehr wie vor 200 Jahren Bauern am Schachbrett des neuen großen Spiels bleiben, das die Begehrlichkeit der Weltwirtschaft in Gang gesetzt hat.
Lange hatten Drittweltländer nur zweitklassige Sowjettechnologien als Alternative zur Abhängigkeit vom Westen gehabt – um den Preis ideologischer Gefolgschaft. Chinas Wirtschaftskooperation ist heute ideologiefrei, wenn auch nicht ohne Eigennutz. Das Reich der Mitte, ohne Menschenrechtsskrupel zu Hause und noch viel weniger bei der Durchsetzung seiner Interessen in Afrika oder asiatischen Nachbarländern wie Burma, ist hier längst massiv präsent. Chinesische Billig- und Technikprodukte überschwemmen Zentralasiens Basare. Chinas rohstoffhungrige Konjunktur sucht eine sichere Verbindung zum Nahen Osten sowie Zugang zu den mittelasiatischen Ressourcen.
Peking lockt mit enormen Devisenreserven und macht auch seinen politischen Einfluss geltend. 2001 wurde die „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“, bestehend aus Russland, China, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan, gegründet. Vordergründig geht es um die regionale Sicherheit: mit der moslemischen Unruheprovinz Xinjiang-Uighur, dem historischen Ost-Turkestan, das ein Viertel des Reichs der Mitte umfasst, hat China selbst Anteil an Zentralasien.
Die Shanghai-Gruppe betont unverhohlen die Notwendigkeit einer multipolaren Welt – und wird von den USA entsprechend misstrauisch beäugt. Irans Präsident Mahmud Ahmadinejad durfte beim Gipfel des zunehmend anti-westlichen Clubs von Diktatoren schon große Reden halten, obwohl sein Land nur Beobachterstatus hat.
Schwaches Europa
Europa scheint im Wettstreit um strategischen Einfluss in Zentralasien ins Hintertreffen geraten zu sein. 1993 wurde unter EU-Ägide das TRACECA-Programm (Transportkorridor Europa-Kaukasus-Asien) mit den fünf zentralasiatischen und den drei kaukasischen Staaten ins Leben gerufen. Deklariertes Ziel war die Förderung der wirtschaftlichen Selbstständigkeit der neuen Republiken sowie – über die Wiederbelebung der traditionsreichen Seidenstraße als Rückgrat transkontinentaler Handelsbeziehungen – die Verbesserung der Zugangsmöglichkeiten zum europäischen Markt. Eine Milliarde Euro der EU und internationaler Entwicklungsbanken wurde in die Verkehrsinfrastruktur investiert.
Nur ein Bruchteil des Handels zwischen Europa und dem asiatisch-pazifischen Raum im Wert von jährlich 300 Milliarden US-Dollar wird auf dem Landweg transportiert. Selbst wenn jüngst ein Container-Testzug der Deutschen Bahn von Peking nach Hamburg nur 15 Tage statt 35 am Seeweg brauchte: der Transportkorridor strebt weniger den Gütertransport auf Schiene und Straße als den Ausbau von Öl- und Gaspipelines an.
2007 wurde eine neue EU-Strategie für die Region beschlossen. Diese hat allerdings eher generellen Charakter und hat kaum konkrete Umsetzungsinstrumente. Als Technologielieferant und finanzpolitischer Dienstleister ist Europa willkommen: Bis 2013 sollen zumindest weitere 750 Millionen Euro EU-Gelder in die Region, nicht aber in die Taschen von Geschäftemachern fließen.
Über Schlaglochstraßen donnern Lkws und Mercedes-Limousinen der Polit- und Wirtschafts-Elite an Baumwoll-Monokulturen, Eselskarren, Jurten und Kamelherden vorbei. Ökologische Absichten bleiben bei der großen Kapitalanreicherung zwischen China und dem kaspischen Meer bloß Lippenbekenntnisse. Bilder von gestrandeten Schiffen in der Wüste gingen um die Welt, doch der Aral-See trocknet weiter aus.
Beim Nachtflug leuchten Bohrinseln im Sandmeer: Abgefackeltes Gas lässt die Wüste von Turkmenistan gleichsam lodern – wenig idyllische Brandzeichen des rasanten Fortschritts. Unsere Wahrnehmung der Region ist von rotgeknüpften Teppichen und blauen Fayencemustern geprägt, allenfalls von einem der grotesken „Borat“- Filme. Der Tourismus zwischen Wüste und Pamir-Gebirge steckt noch in den Kinderschuhen.
Im Zweiten Weltkrieg wurden Wolgadeutsche und Tschetschenen von Stalin in die Steppen deportiert. Ohne lokale Gastfreundschaft und Hilfe hätten sie nicht überlebt. Nach 1991 verließen Millionen Russen und eine Million Deutschstämmige Zentralasien. Die betreffenden Länder haben sich von den Umwälzungen und dem personellen Aderlass anscheinend erholt. Indessen wächst die Kluft zwischen Arm und Reich rasant, und Nepotismus breitet sich aus: die Länder Zentralasiens findet man auf der Liste korrupter Staaten durchwegs auf vorderen Plätzen.
Die Diskussion neuer zentralasiatischer Wertvorstellungen als Brücke und Symbiose westlicher, östlicher und islamischer Prinzipien hat noch zu keinem konkreten Ergebnis geführt. EU und OSZE haben mit gutem Willen und vielen Worten, aber bescheidenen Ergebnissen versucht, die demokratische Öffnung zu fördern. „Kurz nach der Unabhängigkeit waren die Herrschenden noch um internationale Anerkennung bemüht – und offen für Rat“ , meint Kamoludin Abdullaev von der tadschikischen Staatsuniversität in Duschanbe. „Das ist spätestens seit 9/11 vorbei.“ Es gibt zwar hochbezahlte Berater, Stiftungen und NGOs, die aber allzu oft bei der Förderung demokratischer Partizipation an lokalen Gegebenheiten scheitern und im schlechtesten Fall eine geschickte Funktionärskaste versorgen.
Mit Konsens aller OSZE-Staaten wurde Kasachstan für 2010 zum Vorsitzland der Sicherheitsorganisation gewählt. „Womit wir den Bock zum Gärtner machen“ , wie ein westlicher Diplomat ironisch – und verkürzt – kommentiert. Was wir im Westen als Höchstmaß politischer Vernunft ansehen, hat Jahrhunderte wechselvoller Entwicklung voll blutiger Rückschläge hinter sich. Europas Auftreten in Sachen Menschenrechte wird angesichts seiner kolonialen Geschichte, aber auch aktueller Geschäfte mit China oder Libyen im Rest der Welt oft als heuchlerisch empfunden. Selbst im europäischen Kontext tut sich Europa bei der Unterstützung von „Nationbuilding“ (siehe Bosnien oder Kosovo) schwer.
Weder Besserwisserei noch militärische Interventionen machen Demokratie zum Exportschlager. Die Etablierung rechtsstaatlicher „Hardware“, wie Verfassung und Institutionen, ist in den letzten Jahren in Afghanistan oder im Irak an inkompatibler einheimischer „Software“, sprich soziokulturellen Resistenzen, weitgehend gescheitert. Und wenn sich bei den seltenen, halbwegs freien Wahlen in der Region nicht die erhofften Partner durchsetzen (wie etwa in Palästina oder im Iran), stürzt dies Europa in ein neues Dilemma. Ein nachhaltiger Demokratieaufbau in multi-ethnischen Staaten mit Clan-Loyalitäten dauert einfach erheblich länger.