Selten schaffen es Konflikte von jenseits des „Nahen“ Ostens in unsere Aufmerksamkeit. Noch weniger, wenn kaum Großmachtinteressen im Spiel sind: Sri Lanka
Indiens Träne im Ozean
Der Standard, Juli 2001
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Sri Lanka ist nicht Naher, nicht Ferner Osten. Mittlerer Südosten? Eine geostrategisch inexistente Region – nicht definiert, kaum einordenbar. Seit achtzehn Jahren herrscht Krieg auf einer Trauminsel alter Kulturen. Menschliche Abgründe und mögliche Lösungsansätze haben mehr mit uns zu tun, als wir wahrnehmen wollen.
Kupferstunde
Ein Dorf im Nordosten, nahe der vage definierten Front zwischen Armee und Tamilentigern. Bedächtige Dickhäuter schnauben beim Baden am trägen Fluss. Eine Gruppe ausgelassener Kinder treibt einen alten Reifen über die staubige Straße, in die untergehende Sonne. „Kupferstunde“ hat ein Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes ein Buch und diese kurzen Momente trügerischer Idylle genannt: Die Haut der Menschen leuchtet rot im vergänglichen Abendlicht, während die wenigen ausländischen Beobachter längst retour in die Hauptstadt eilen, an den Pool und rechtzeitig zum Dinner. Ausgedörrte Soldaten räumen ihre Sandsackstellungen an der Dorfzufahrt, ziehen sich für die nächsten zehn Stunden zurück, in die Sicherheit der zu Festungen ausgebauten Garnisonen. Die Nacht bricht mit Zirpen und Schnarren herein. Und die Dörfer sind vogelfrei, ausgeliefert der Angst, dem Recht des jeweils Stärkeren. Die Armee bei Tag, die „Tiger“ bei Nacht. Hinter jedem Tierschrei lauert ein Überfall, Gemetzel, der Tod. Das Morgen-Grauen bringt keine Erlösung, kaum Hoffnung. Vielleicht Aufschub.
130.000 Menschenleben hat politischer Terror im Paradies seit 1983 gefordert, davon
80.000 der Krieg zwischen Regierung und Tamilenrebellen. Dazu Hunderttausende von Minen Verstümmelte, Waisen, Entwurzelte. Im Namen von Volk, Kultur, Religion: bekannte Muster. Doch wie lassen sich prinzipiell undogmatische Religionen wie Buddhismus und Hinduismus politisch instrumentalisieren?
Genesis
Zugegeben: Der Konflikt ist nicht 18 Jahre alt, sondern gut zweitausend. Indogermanische Singhalesen, „Löwenmenschen“, wanderten ab dem 6 Jh. v. Christus aus Nordindien ein. Spätestens seit derselben Zeit kamen auch die Vorfahren der hinduistischen Tamilen aus Südindien über die Meerenge nach „Lanka“, die Dämoneninsel des indischen Heldenepos
Ramayana. In den Jahrhunderten unseres Mittelalters wogte das Ringen, fand Vermischung statt. Die spektakulär emporragende Felsenfestung Sigiriya mit ihren erotisch schwebenden Wolkenmädchen, die überirdischen Felsenbuddhas am spiegelnden See von Polonnaruwa, die Tempel zu Füssen des zweitausendjährigen Boddhi-Baumes von Anuradhapura, verwaschen von 800 Jahren Monsunregen: Zeugen einer Kultur und ihrer
Lebendigkeit durch ständige Befruchtung. Weitläufige Ruinen unter der flimmernden Hitze kurz vor Beginn der Regenzeit erzählen von blühenden Städten voll Geist, Handel, Kämpfen und meditativer Besinnung. Siam, die Khmer Kambodschas, Javas Königreiche wurden durch das reiche Kulturland Ceylon buddhistisch. Von Herodot gepriesen, kamen seit der Antike ägyptische, chinesische Händler an die Gestade der Insel. Das Abendland hatte für die duftenden Schätze des Orients damals kaum mehr als Edelmetalle zu bieten. Allenthalben tauchen römische Münzen aus dem Boden versunkener Städte.
Angst
„Warum kann ich nicht den Osten oder Norden meiner Heimat besuchen?“, fragt Siri, der singhalesische Exlehrer. „Tamilische Fanatiker haben sie geraubt, und die ,Tiger‘ bringen mich um“, antwortet er selbst, mit leichtem Lächeln, mehr resigniert als fanatisch.
„Sie nehmen uns die Luft zum Atmen, den Raum zur Entfaltung unserer Kultur und Identität“, funkelt der hinduistische Taxifahrer im tamilischen Nordosten, pathetischer, ohne Lächeln. „Sie vergewaltigen unsere Frauen. Sie zerstörten unsere Bibliotheken und Kunstschätze, unsere Existenz“.
Wer Angst hat, umgebracht zu werden, geht – wenn er kann. Hunderttausende Tamilen sind nach Indien geflohen, Hunderttausende weitere wurden aus dem Hochland ebendorthin deportiert. Tausende tamilische Gebildete sind nach Australien, Kanada und in die USA emigriert. Singhalesen gelten in Europa nicht als politisch Verfolgte. So sie bei der verführerischen Suche nach Entfaltung in Frieden nicht in Schlepper-Lkw ersticken, werden sie meist in ihre Heimat zurückgeschoben. Wer es nicht einmal in die bittere Arbeitsemigration der arabischen Wüste geschafft hat, dem bleibt kaum mehr, als sich für umgerechnet 1500 Schilling im Monat als Kanonenfutter verheizen zu lassen. Wem die Flucht nicht gelingt, wer Freunde, den Bruder erschossen, die Schwester vergewaltigt gesehen hat, ist fanatisierbar. Bereit, selbst Minen zu legen, zu foltern, zu morden.
Die „Tamilen-Tiger“ setzen mit Vorliebe Kinder, oft Mädchen für spektakuläre Selbstmordanschläge ein, bis zu Lkw-Bomben mit Hunderten Toten mitten in Colombo. Fanatiker tragen Zyankali-Kapseln als Halsschmuck: Keiner lässt sich lebend abfangen. Präsidenten fielen ihnen zum Opfer, Tausende Zivilisten. Die Armee schlägt erbarmungslos zurück. Und kein Ende ist in Sicht.
Glosende Lunte
Dem Sündenbock „Kolonialismus“ die Schuld zu geben ist zu einfach. Der Kampf Singhalsen gegen Tamilen wogte Jahrhunderte – am Ende behielten die meist buddhistischen Singhalesen die Oberhand. Heute stellen sie gut zwei Drittel der 18 Millionen Ceylonesen. Ein weiteres Viertel sind großteils hinduistische Tamilen, außer im Hochland konzentriert im Norden und Osten der edelstein- oder tränenförmigen Insel von der knappen Größe Österreichs. Die restlichen zehn Prozent stellen Muslime sowie Christengemeinden, vor allem an der Westküste.
Nach Vasco da Gamas Seeweg um Afrika 1498 lösten sich gierige europäische Gewürz- und Kolonialambitionen ab, zunächst Portugiesen, dann Holländer. Erst den Engländern gelang im 19. Jahrhundert die Eroberung des letzten buddhistischen Bergkönigreiches von Kandy. Erobert ja, aber nicht unterworfen. Die Singhalesen waren wenig geneigt, der britischen Weltmacht in der Administration und auf Plantagen zu dienen. Für ihre Teegärten holten die Engländer 500.000 indische Tamilen in die fruchtbaren, nebeligen Berge. Ceylons einheimische Tamilen, ebenso intelligent wie willig, stiegen rasch in der Verwaltung auf. Ihre Kinder erhielten Zugang zu höheren Schulen. Zur Zeit der Unabhängigkeit 1948 hatten sie einen erheblichen Bildungsvorteil gegenüber den Singhalesen. Doch diese singhalesische Mehrheit drängt populistisch mittels Quoten und Willkür die Tamilen aus Ministerien, Ämtern, von den Universitäten und in die Defensive. Singhalesisch wird Staatssprache auf der 1972 in Sri Lanka umbenannten Insel. Die Tamilen beginnen sich zu wehren, zunächst friedlich – und erfolglos. 1983 tritt eine neue Kraft auf den Plan, die „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ (LTTE). Bei einem Überfall werden 18 Armeesoldaten getötet. Die Lunte war gelegt, und der lauernde Konflikt explodiert: Ein aufgestachelter Singhalesenmob plündert in Colombo und anderen Städten Tausende Geschäfte, fackelt Häuser ab. 3000 Tamilen kommen in zwei Nächten des „Schwarzen Juli“ 1983 um, Zehntausende rennen um ihr Leben. Die LTTE fordern nun kompromisslos „Tamil Eelam“, einen eigenen, ethnisch reinen Staat im Norden und Osten der Insel.
Ungeliebte Mutter Indien
Indien, mit Blick auf 50 Millionen eigene Tamilen im Süden, gewährt den „Tigern“ zunächst stillschweigend Ausbildung und Nachschub. Vier Jahre später, 1987, bemüht sich Indien, „Mutter“ der verfeindeten Geschwister Singhalesen und Tamilen, um Frieden. Colombo lässt 50.000, dann 100.000 indische Interventionssoldaten auf die Insel. Die regionale Supermacht holt sich eine blutige Nase. Unzählige indische Rekruten sterben beim Versuch der Entwaffnung der LTTE: Die Regierung in Colombo ließ ihren Todfeinden geheim Waffen zukommen, um die bevormundende Mutter Indien wieder loszuwerden. Indiens Ministerpräsident Rajiv Gandhi selbst wird durch eine Selbstmordbombe einer Tamilin, versteckt in einem Blumenstrauß, zerfetzt.
Und der Krieg geht weiter. Damit nicht genug – ein in Moskau initiierter, später maoistisch inspirierter Universitätszirkel und aufgebaute Dorfgarden entfachen im Süden der gespaltenen Insel einen weiteren, diesmal innersinghalesischen Feuersturm. Die Kaderpartei „JVP“ versucht durch rücksichtslosen Terror an Politikern, Mönchen, Intellektuellen und deren Familien Revolution und Kulturrevolution in einem. Nach monatelanger Lähmung schlägt das Regime mit in Lateinamerika erprobten Todesschwadronen zurück.
Praktisch alle JVP-Führer und Mentoren, die Studenten und meisten Mitläufer werden aufgespürt, gefoltert, kastriert, gehenkt, zur Abschreckung mit Autoreifen um den Hals lebendig verbrannt oder in Flüsse geworfen. Monsunwellen spülen von Haien zusätzlich entstellte Leichen zurück an von Touristen verlassene Strände. Terror und Gegenterror kosten 1988/89 weit über 50.000 Tote und bringen die singhalesische Gesellschaft an den Rand des Abgrunds.
Oft kann nur Literatur das Grauen in seiner Vielschichtigkeit begreifbar machen: Michael Ondaatje, aus Sri Lanka stammender Autor des „Englischen Patienten“, skizziert in Anils Geist ein beklemmendes Sri Lanka jener Monate: Wie leicht Engagement an den Scheideweg zur Bestialität führen kann. Die Intensität der Romanhandlung und des Entsetzens ist durch die eurasische Personen-, Kultur- und Psychologiemischung plötzlich fassbar, spürbar, beklemmend nahe.
Vertuschung
Ungesühnte Opfer, ungestrafte Täter, Verdrängung von Massengräuel: bekannte Muster auch unserer europäischen Geschichte. Nach der Auslöschung der linken JVP-Fanatisierten sowie Tausender Unschuldiger wurde auch in Sri Lanka Anfang der Neunzigerjahre alles unter den Teppich gekehrt, wurden Täter auf Regierungsseite nie ermittelt, sondern pauschal amnestiert. Die Folgen brechen heute auf: Hinter der lächelnden Maske einer rigiden Gesellschaft verbirgt sich die weltweit höchste Selbstmordrate – eigenartig für ein Land der „Dritten Welt“.
Für die Erfassung der Folgen von Verdrängung sind keine psychoanalytischen Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts nötig. Antike Mythen, Religionen oder südindische, nächtliche Kathakali-Trancetänze dramatisieren Schuldverstrickung einmal offen, einmal verschlüsselt: Vergehen des Einzelnen fallen auf das Individuum oder seine Sippe zurück. Beteiligt sich das Kollektiv an der Vertuschung, so rächen sich Götter und Schicksal am Volk. Lügen wenden sich – à la longue – immer gegen die Verschleierer. Trotz Weitsichtigkeit von antiken Orakeln, Weisheit der Erfahrung, oder Hausverstand: Politiker aller Weltgegenden und Zeiten verschließen sich populistisch-kurzsichtig gegen diese Erkenntnis, mit fataler Beharrlichkeit. Das Volk büßt blutig.
Lähmung
Sind uns exotische Kriege fern, weil uns die Zuschreibung von gut und böse schwerfällt? Offenbar brauchen wir „Schuld“ und „Unschuld“, um uns in Medien, am Stammtisch, an Universitäten ereifern, dann – vielleicht – gegen einen Krieg engagieren zu können. Wir wollen klare Täter, eindeutige Opfer. Feindbilder wie Kommunismus, Imperialismus, islamischer Fundamentalismus helfen. Wechselnde Ideologien, mit denen wir uns identifizieren oder die wir ablehnen können, je nach Zeit und Mode: Chile einst, Afghanistan, Naher Osten, oder Tibet heute. Andere Kriege machen uns nur sprach- und hilflos. Wir ziehen es vor, sie nicht wahrzunehmen.
Urlauber räkeln sich an den Palmenstränden von Sri Lankas Südwestküste, im All-inclusive-14-Tage-Pauschalpaket oder neuerdings bei Ayurveda, dem „Wissen vom Leben“: Eine jahrtausendealte Medizinphilosophie des Ausgleichs droht zum modischen Körperkult zu verkommen. Wir schauen bei einem Happy-Hour-Cocktail verträumt in den Sonnenuntergang, vergessen für Momente unsere kleinen Alltagssorgen. Wo die Sonne aufgeht, im Osten, oft nur ein paar Dutzend Kilometer entfernt tobt der Krieg, explodieren Minen, werden Glieder und Seelen verstümmelt. Ein fremder, entfernter Krieg?
Die Seiten im Reiseführer über „den Konflikt“ werden verwirrt überflogen. Fragen tauchen auf und werden verdrängt: Könnten wir etwas tun? Zumindest etwas über uns selbst lernen, unseren Luxus, unseren scheinbar verdienten und doch so fragilen Frieden im Herzen Europas?
Keiner der Kontrahenten Sri Lankas kann den Krieg gewinnen – und keiner will zurückstecken. Regierungsoffensiven gegen die „Tiger“ im Frühjahr 2001 forderten wieder Hunderte Tote, Tausende Verstümmelte – und führten zu keinem Meter Geländegewinn.
Allahs, Buddhas, Shivas Erde
In Afghanistan tilgen fanatische Moslems das buddhistische Erbe vom Antlitz ihrer Erde. Gottes Erde? Selbst in Indien wird die Religion, der Hinduismus, seit 15 Jahren zunehmend für populistische Engstirnigkeit instrumentalisiert, im Kampf gegen Pakistan und um die technokratische Elite der Kongresspartei auszuhebeln. V. S. Naipaul, Exilinder aus Trinidad, beschreibt pessimistisch ein beklemmendes „Land in Aufruhr“. Und auf Sri Lanka pflegen manche Singhalesen weniger buddhistische Toleranz als klammernde Überlegenheitsmythen. Reformen wie Anerkennung des Tamilischen waren halbherzig oder kamen zu spät. Sri Lanka ist für Tamilen nicht mehr ihr Land.
Konfliktmischungen aus Volk, Religion und Rache, oft von außen ideologie- und waffengewaltig immer wieder neu angeheizt: Von Sri Lanka in den Sudan, in Kaschmir, im Kaukasus, im Kongo, in Nordirland und Südserbien, von Osttimor in die Westsahara, von Mazedonien zu den Molukken und Legionen anderen, vergessener und neuer Schauplätze des Schreckens. Unsere vermeintlich heile Welt bleibt lieber unter sich. Wir lassen uns durch Medien-Oligopole ein paar ausgewählte, schaurig-bunte Bilder vom Tellerrand des Wohlstands ins Haus liefern, gepresst in 42 Sekunden CNN-Erklärung aller Fakten und Hintergründe. Wir glauben uns erhaben, hinausentwickelt aus dem Lebens-, manchmal Teufelskreis von Leid, Tod und Widergeburt. Es sind „die anderen“, denen Gewalt im Blut liegt, Südslawen, Semiten, Asiaten, Afrikaner sowieso. Vielleicht spenden wir etwas für die unermüdlichen „Ärzte ohne Grenzen“. Und lassen das Elend, das Grauen im Übrigen dort, wo es hingehört: bei jenen anderen. Wir übersehen, verdrängen gerne, wie fragil unser Friede und Wohlstand ist, wie schnell Feindbilder, Hass diabolisch in uns selbst wachgezaubert werden könnten.
. . . und ein Hauch Hoffnung
Wer nicht religiös ist, mag sich mit Manes Sperber trösten: Und überlebt auch nur einer heil an Körper und Seele, ist die Menschheit nicht verloren.
Indiens schillernder Edelstein als Träne im Ozean. Danach versöhnliche Wellen, bis zu den Gestaden der nächsten Insel, des kleinen, unbeschwerteren Mauritius mit toleranten Hindus, Buddhisten, Muslimen und Christen.