Türkei: Abstimmung in einem Klima von Nationalismus und Repression
Ein formal korrekter Urnengang macht aus einer Volksabstimmung noch keine Demokratie
Huffington Post, April 2017
Wellen und Schaum der türkischen Politik schwappen in die europäische Debatte, nicht nur nach Deutschland. Die fragwürdigen Rahmenbedingungen für das Verfassungsreferendum am Sonntag beherrschen Politik- und Kommentarseiten. Ist beim rabiaten Durchgreifen gegen jede Widerrede im Land überhaupt zu erwarten, dass am Wahltag und bei der Auszählung alles mit rechten Dingen zugeht?
Als Mitglied von Europarat und OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, hat sich die Türkei zur Einhaltung von Mindeststandards bei Wahlen verpflichtet. Dazu gehört die Zulassung internationaler Beobachter.
Die Präsidentenwahl 2014 war nach OSZE-Einschätzung noch „generell frei“ verlaufen. Aber Chancengleichheit gab es schon damals nicht. Der noch-Premierminister Recep Tayyip Erdoğan profitierte vom „Missbrauch staatlicher Ressourcen“ und von „parteiischer Medienberichterstattung“. Für Gerüchte über gefälschte Stimmzettel aber gab es keinerlei Belege.
Die Litauerin Vilija Aleknaite Abramkiene, Vizepräsidentin der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und 2014 Wahlbeobachter-Koordinatorin, hatte noch von einem „lebhaften politischen Leben“ und insgesamt von einem „Potential für eine gesunde Balance der politischen Kräfte“ gesprochen.
Aktivisten der Nein-Kampagne werden behindert, bedroht, eingeschüchtert
Spätestens seit dem Putschversuch im Juli 2016 hat sich die Situation radikal verschlechtert. Im herrschenden Ausnahmezustand wurden 40.000 Menschen eingesperrt, darunter unzählige Journalisten und Parlamentarier. 100.000 sind aus Beamtenpositionen entfernt: Richter, Staatsanwälte, Universitätsprofessoren, Lehrer. 60 Fernseh- und Radiostationen sind geschlossen, 19 Zeitungen, 29 Verlage und 5 Nachrichtenagenturen. Die Zivilgesellschaft (Stichwort Gezi-Proteste) wird drangsaliert. Im Südosten des Landes herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Keine guten Voraussetzungen für eine freie Abstimmung.
Europa und vor allem Deutschland hat bei der Türkei lange ein Auge zugedrückt, nicht nur wegen des Flüchtlingsdeals. Die Türkei ist ein wichtiger Wirtschafts- und Nato-Partner. Das Land wurde als demokratisch-laizistisches Vorbild für andere mehrheitlich muslimische Länder gesehen. Dabei wies das türkische Modell stets einige restriktive Besonderheiten auf, etwa eine 10%-Hürde, um Minderheiten aus dem Parlament und damit dem politischen Prozess zu halten.
Eine OSZE-Mission beobachtet seit Wochen die Entwicklung. Sie hat die Arbeit der Wahladministration verfolgt, die Kampagnen, die Finanzierung und natürlich die Mediensituation.
Wahlbeobachter können nicht überall sein, umso weniger, wenn es sich, wie im Falle der Türkei, um eine sehr kleine Mission handelt: Ein Dutzend erfahrener Experten in Ankara, dazu 26 Langzeitwahlbeobachter in die Regionen. Am Wahltag selbst werden zwar stichprobenartig einige Wahllokale besucht. Die systematische Beobachtung des Wahlvorgangs in 175 000 Sprengeln und der Auszählung ist nicht möglich. Und zu türkischen Konsulaten in 57 Ländern hatten OSZE-Beobachter keinen Zutritt. Dort durften bis 9. April fast 3 Millionen türkische (auch viele Doppel-)Staatsbürger abstimmen, darunter gut 1,4 Millionen in Deutschland, jeweils etwa 100 000 in Österreich und der Schweiz.
Die Einschätzung internationaler Wahlbeobachter basiert auf selbst Gesehenem. In Ergänzung sind sie stets auf eine Vielzahl lokaler Gesprächspartner angewiesen. Zugetragene Informationen müssen verifiziert werden. Unbestätigte Gerüchte fließen in keinen seriösen Bericht ein.
„Fundamentale Rechte wurden eingeschränkt,“ heißt es im Zwischenbericht der OSZE-Mission vom 7. April. „Regierungsnahe Medien zeichnen über die Nein-Anhänger ein Bild voller Feinde, Machenschaften und Konspiration“, sagt der Direktor des zuständigen OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR), der Deutsche Michael Link, einst Staatsminister im Auswärtigen Amt. Für Aktivisten des Nein-Lagers war es „unmöglich, einen adäquaten Wahlkampf zu machen.“ Sie werden als Terroristen oder Putschisten verunglimpft, behindert, eingeschüchtert. Zivile nationale (NGO-)Wahlbeobachter sind nicht zugelassen, nur offizielle Parteienvertreter. Im kurdischen Südosten der Türkei wurden zahlreiche Vertreter der Oppositionsparteien CHP und HDP abgelehnt.
Auch die kurdische Gesellschaft ist gespalten
Die Türkei ist polarisiert. Auch die kurdische Gesellschaft ist nicht homogen. Vor ein paar Jahren hatte Erdoğan die Kurden umworben, und ein Teil der muslimisch-konservativen Kurden wählte zuletzt noch immer die AKP. Die Laizisten der HDP rufen trotz Repression und Inhaftierung ihrer Führung für den 16. April zum „Nein“ auf. Von der Mobilisierung beider Lager wird das Endergebnis abhängen.
Doch die Wähler wissen nur zum Teil, über welch grundlegende 18 Verfassungsänderungen sie abstimmen. Für die meisten ist es ein Plebiszit pro oder contra Erdoğan. Wenige machen sich Gedanken, wer nach ihm kommt, und wie das Machtmonopol künftig ge- bzw. missbraucht werden kann. Dass in unsicheren Zeiten nicht nur die türkische Gesellschaft anfällig für Chauvinismus und Führersehnsucht wird, ist keine neue Erkenntnis.
Das alles heißt nicht, dass der Wahlvorgang selbst und auch die Auszählung nicht weitgehend korrekt ablaufen können. Ein rein formal „sauberer“ Urnengang aber macht im herrschenden Klima von Propaganda, Nationalismus, Einschüchterung und Gewalt noch keine funktionierende Demokratie.
In Anbetracht dessen, dass die OSZE in ihrer Beurteilung meist diplomatisch-vorsichtig ist, war die vorläufige Einschätzung vom 7. April beunruhigend. Ihr Endbericht bleibt abzuwarten. Die politische Zukunft wird in jedem Fall holprig, doch wir sollten die Türkei noch nicht abschreiben. Von orientalischer Despotie oder ähnlichem zu polemisieren hilft weder uns noch der türkischen Zivilgesellschaft.