Afrika wird als Kontinent der Katastrophen und Entwicklungshilfe wahrgenommen
Erwachende Löwen
Für Peking ist es ein Kontinent der Geschäfte: trotz Rohstoffpreisverfall boomten zuletzt etliche Länder. Europa ist mit sich selbst beschäftigt und wirkt ratlos
Wiener Zeitung, März 2016
Wir wissen um die Macht von Bildern. Auf einer virtuellen Weltkarte unserer Projektionen und Ängste bestimmten einst Hungersnöte die Vorstellung vom „Schwarzen Kontinent“, heute Ebola und Boko Haram, bestenfalls noch tanzende Einheimische und ein bisschen Massai-Mara-Romantik à la Jenseits von Afrika. Der Kontinent „wird im Westen meist als Versager in der Entwicklungspolitik und als ein permanentes humanitäres Operationsgebiet abgehandelt“, bedauert Georg Lennkh, Präsident von CARE Österreich. Spendenorganisationen setzen begreiflicherweise oft auf Emotionen. Doch die Dramatisierungsfalle des K-Faktors – Krisen, Katastrophen, Kriege, Kindersoldaten, Kriminalität, Krankheiten, Korruption – lässt wenig Differenzierung zu. Für 33 Länder ist ein deutscher Afrikakorrespondent im Schnitt zuständig. Ein Drittel der Länder, über die er berichtet, wird er nie bereisen. Afrika, größer als Europa, China, Indien, Japan und die USA zusammen, ist vielfältig – unsere Bilder sind oft einseitig.
Überholte und einseitige Afrika-Bilder
Afrika als Betreuungsfall?
Mit der brutalen Kolonialgeschichte und dem eklatanten Wohlstandsgefälle war Entwicklungszusammenarbeit für Europa ein moralischer Imperativ. Engagierte und kompetente Expertinnen von Hilfsorganisationen leisteten über Jahrzehnte hervorragende Arbeit. Doch rasante Fortschritte wurden in Asien erzielt, kaum in Afrika, dem Hauptempfänger von Entwicklungsgeldern: seit 1960 die Summe von sechs Marshallplänen, stellt der kritische Ghanaer George Ayittey fest. Die Stimmen europäischer Skeptiker wie Volker Seitz („Afrika wird armregiert“), aber vor allem afrikanischer Kritiker wie Axelle Kabou („Weder arm noch ohnmächtig“) aus Kamerun, Dambisa Moyo („Dead Aid“) aus Sambia oder James Shikwati („Fehlentwicklungshilfe“) aus Kenia ähnelten einander in zentralen Punkten: Nach zwei Billionen Dollar an Entwicklungsgeldern stand Afrika schlechter da als zu Beginn der “Almosenindustrie”. Der Kontinent bewege sich in einem Hamsterrad aus Abhängigkeit und Korruption.
China
Der Flughafen von Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba in den Abendstunden: Der Transitbereich scheint aus den Stahlnähten zu platzen. Nicht Afrikaner sind in der Mehrzahl, nicht Europäer, sondern Asiaten. Im Viertelstunden-Takt heben Maschinen nach Beijing, Shanghai, Mumbai oder Guangzhou ab. 2 500 chinesische Firmen sind in Afrika aktiv, 150 Milliarden Dollar hat Peking investiert, über eine Million Chinesen bauen Straßen, Eisenbahnen, machen Geschäfte. Europas Anteil an Afrikas Außenhandel – Anfang der 90er Jahre noch bei 60% – hat sich halbiert. Längst hat uns China überholt: Das Volumen seines Güteraustauschs mit Afrika ist binnen 15 Jahren von zehn Milliarden U$ auf 200 Milliarden explodiert.
Expansionismus? Neokolonalismus?
Pekings kometenhafter Aufstieg ist ein entwicklungspolitisches Reizthema: ganze Länder reiße sich China unter den Nagel und agiere als egoistischer Ressourcensicherer, inklusive „Land Grabbing“: Ackerland werde einheimischen Bauern entzogen und treibe diese in die Slums der Städte. „Spektakulär übertrieben oder überhaupt falsch“, sagt Deborah Brautigam. In „Will Africa Feed China?“ bezeichnet die Autorin entsprechende Meldungen als hartnäckige Internet-Mythen. Gerade einmal 2500 km² habe China erworben. Dabei könne Afrika asiatische Erfahrungen gut gebrauchen: Thailand allein exportiert mehr Agrarprodukte als ganz Subsahara-Afrika zusammen. Als habe die grüne Revolution nie stattgefunden, betreibe Afrika Subsistenzlandwirtschaft. Und diese ist etwa Dürren wie der derzeitigen oft hilflos ausgeliefert.
Noch vor 20 Jahren war der Westen wichtigster Projektansprechpartner Afrikas. Heute thematisiere das Feuilleton europäischer Medien wie ein Mantra das Ende des Kapitalismus, statt seine Erfolge und Möglichkeiten zu diskutieren, während immer mehr Länder auf Marktwirtschaft setzen, bedobachtet Hans Stoisser, Entwicklungsexperte mit jahrzehntelanger Afrika-Erfahrung: Die Entwicklungszusammenarbeit sei die letzte Bastion der Planwirtschaft. Private Investoren schauen genauer, was mit ihrem Geld geschieht als Staaten, die gegenüber ihren Steuerzahlern selten nachweisen können, dass die moralisch gerechtfertigte Hilfe auch tatsächlich nachhaltig ist. Obwohl wir Chinas Waren als Billigprodukte verachten: Flip-Flops schützen Kinder- wie Erwachsenenfüße, Plastikeimer erleichtern Frauen den Wassertransport. Und: Europas Exporte waren längst nicht immer Top. Wer heute von Afrikas Entwicklung spricht, spricht von China. Mehrere spannende Bücher greifen das auf.
Globalisierung
Eindringliche Bilder von afrikanischem Elend dokumentieren vermeintlich negative Konsequenzen der Globalisierung. Filme zeigen, dass wir saturierte Wohlstandsbürgerinnen hungernden Menschen am Victoriasee die letzten Barsche wegessen. Für Hans Stoisser sind Schwarzmaler wie der Schweizer Soziologe Jean Ziegler die perfekte Besetzung quotenbringender Talkrunden. Er appelliere an unser schlechtes Konsumenten-Gewissen: Afrikaner sind Ausbeutungsopfer multinationaler Konzerne und ihrer lokalen Helfershelfer. Zieglers Botschaften fördern unser Gefühl, dass alles immer schlechter würde – und nicht die Tatsache, dass globale Arbeitsteilung hunderte Millionen Menschen aus der Armut geholt hat.
Bei der Suche nach Schuldigen geraten Ursache und Wirkung durcheinander. Afrikanische Slums explodierten, weil die Bevölkerung dank besserer Gesundheit exponentiell gewachsen ist und die traditionelle Wirtschaft eine wachsende Bevölkerung nicht aufnehmen kann. „Wir glauben, mit Slogans wie ‚Lokal statt Global‘ die komplexen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen zu können“, warnt Stoisser in seinem Buch „Der schwarze Tiger“.
Afrika war nicht wegen der Globalisierung arm, sondern weil der Welthandel am Kontinent vorbeifloss. Sein Anteil lag 1948 bei 7,4%, sechzig Jahre später nur noch bei 2%, ohne Nord- und der Republik Südafrika bei nur 0,8%. Und Afrika war in der Rohstofffalle gefangen: Einseitige Ressourcenschürfung hieß Bereicherung lokaler Eliten und wirtschaftliche Stagnation. Als Investitionsstandort war Afrika lange wenig attraktiv. „Ohne Arbeitsmöglichkeiten wandern die wenigen gut Ausgebildeten ab“, klagte Liberias Präsidentin Johnson Sirleaf, „gerade in jene Länder, die am Welthandel teilnehmen“.
Klar – Peking stillt seinen Rohstoffhunger, will Absatzmärkte schaffen und inszeniert sich als weise Weltmacht. Afrikaner nehmen die Angebote gerne auf, statt sich von Europas Vorschriften nerven zu lassen. Die Region schlug sich gut, als der Finanzkrise weltweit ein Rückgang internationaler Investitionen folgte: Zwischen 2000 und 2014 stiegen sie in Afrika von 4,7 Milliarden auf 30,5 Milliarden Euro. Wenn China breit angelegt auch in Afrikas Industrie investiert, wittern Kritiker rasch neue Umweltdesaster, Lohndumping, Kinderarbeit. Doch Abschottung festigt archaische Strukturen.
Europa sei bei Afrikas Innovationsschub zu zögerlich, meint Christian Hiller von Gaertringen, Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Autor von “Afrika ist das neue Asien. Ein Kontinent im Aufschwung“. Von deutschen Exporten 2013 in Höhe von 1,1 Billionen Euro landeten nur 2% in Afrika, die Hälfte davon in Südafrika. Mit Anlagen und nachhaltigem Knowhow etwa bei Wasser, Abwasser, Müll, Energie hätten die „Hidden Champions“ Riesenchancen: die mitteleuropäischen, auch österreichischen Klein- und Mittelbetriebe mit ihrer Wertschätzung von Mitarbeitern und Kunden. „Ich bin traurig, dass Australien und Neuseeland, die so weit von Europa entfernt sind, jeweils mehr nach Europa exportieren als alle afrikanischen Länder zusammen. Dabei sind wir Nachbarn“, ergänzt Monty Jones, afrikanischer Vertreter bei einem europäischen Wirtschaftsforum.
Schwarze Tiger
China ist der größte Akteur in Afrika, gefolgt von Brasilien, Indien, der Türkei und Asiens Südosten. Unternehmen aus diesen Schwellenländern erarbeiten vor Ort innovative Software- und Kommunikations-Lösungen. Einstige Krisenstaaten wie Äthiopien, Mosambik oder Ruanda zählen zu den erfolgreichsten. „Eine kritische Masse von Ländern hat die Wirren der Entkolonialisierung überwunden“, sagt Stoisser. Für Ghana, Äthiopien und Ruanda prognostiziert die OECD Wachstumsraten von 8 bis 10% jährlich, wie in den Boom-Jahren der asiatischen Tigerstaaten. Junge afrikanische Löwen beginnen, die Tiger zu jagen.
Lange verfemte Unternehmungsgründungen wurden leichter. „In vielen Ländern wurden One-Stop-Shops zur Erledigung der Anmeldeformalitäten geschaffen“, beobachtet Stoisser. Neue Technologien überspringen eine Generation und „katapultieren afrikanische Gesellschaften in die Moderne“. Afrika hat heute 700 Millionen Mobiltelefonanschlüsse, bei 900 Millionen Einwohnern – und drei Viertel verwenden die Geräte für neue Leistungen wie mobiles Bankwesen, das zum virtuellen „Schmieröl für Klein- und Mittelunternehmer in Afrika“ werde. Das vor Ort mitentwickelte Mobil-Zahlungssystem M-Pesa revolutionierte das Leben vieler Kenianer und wird zum Export-Hit. M-Farm bringt Informationen über Marktpreise in Echtzeit bis in die Dörfer. High-Tech-Städte entstehen, vernetzte Produktionsketten, konsumorientierte Mittelschichten.
„Silicon Savannah“ wird Kenias Tech-Hub genannt. „Afrika hat das Potenzial, eine der dynamischsten Wirtschaftszonen der Welt zu sein. Sechs der zehn wachstumsstärksten Länder der Erde liegen in Afrika“, meinen auch Andreas und Frank Sieren in ihrem Fakten- und Anekdotenreichen Buch “Der Afrika-Boom”. Die Menschen seien jung und immer besser ausgebildet.
Die Informationstechnologie sei zwar ein Beschleuniger, relativiert ein Weltbank-Bericht Anfang 2016 überschießenden Cyber-Utopismus, aber keine Abkürzung zur Entwicklung. Auch höchst dubiose Geschäftspraktiken werden erleichtert. Das Internet kann einen Industrialisierungsschub, Bildung und Institutionen nicht ersetzen. Neben Eigenverantwortung braucht Afrika weiters saubere, durchsetzungsstarke Behörden.
Peking investiert in marode Infrastruktur. Das liegt im Interesse Afrikas, nicht nur seiner Eliten. Durch Erleichterung beschwerlicher Grenzübertrittverfahren könnte auch der unterentwickelte innerafrikanische Warenaustausch wachsen: der Transport eines Containers vom kenianischen Mombasa nach Europa ist zehn Mal billiger als der Transport dieses Containers ins Nachbarland Uganda.
Herausforderungen
Doch längst läuft nicht alles rund. Es gibt sie weiter, von ethno-religiösen Konflikten zerrissene Regionen, von Mali über Nigeria, den Sudan bis nach Somalia. Die Krisenländer „repräsentieren nur mehr 8% der Wirtschaftsleistung Subsahara-Afrikas, sind aber für 90% der Schlagzeilen in Europas Medien verantwortlich“, meint Stoisser. Doch Rechtsunsicherheit und endemische Korruption bremsen auch andernorts den Aufschwung und fördern Ungleichheit. Fehlgeleitete Politik wie in Simbabwe schafft sogar neues Elend. „Trotz des Wachstums der letzten zehn Jahre“, zitiert Afrika-Experte Georg Lennkh den britischen Economist, „war es nicht möglich, genügend Arbeitsplätze in der formellen Wirtschaft zu schaffen.“ Noch befeuert Peking die Weltwirtschaft. Doch die China- und Schwellenländer-Krise und der Rohstoffpreisverfall haben auch afrikanische Länder auf dem falschen Fuß erwischt: Exporte und Investitionen brechen ein.
Bildungsrückstand, Gesundheit und sozialer Zusammenhalt sind weder durch Spenden noch durch ungezügelte Marktkräfte allein erreichbar. Statt nur Unternehmensgewinnstreben als Antrieb der Wirtschaft zu sehen, schreibt Stoisser, wäre wieder verstärkt der „Kundennutzen“ in den Mittelpunkt zu rücken, zum Vorteil der Gesellschaft als Ganzes.
Von Hybris und Selbstzweifel…
Sicherheitspolitische Herausforderungen rücken an Europa heran. Zwar gingen nach der Finanzkrise mit 100 000 Portugiesen vorübergehend mehr Gastarbeiter in neureiche Ölländer wie Angola als umgekehrt. Doch mit der neu entfachten Migration über das Mittelmeer erscheint Europa trotz Aktions- und neuen alten Entwicklungsgeldplänen bei Gipfeltreffen ein bisschen hilflos, oder antwortet mit Abschottung. Eine „Kakophonie, ein Mangel an gemeinsamen Zielen und geteiltem Ehrgeiz“ zitiert Stoisser aus einer Analyse des Thinktanks „European Council on Foreign Relations“.
… des Europäischen Patienten …
Es ginge nur um Geld, nicht um Werte, monieren Kritiker asiatischer Erfolge vor Ort. Während die Afrikanische Union die EU zum Vorbild hat, beschäftigt sich Europa mit seiner Befindlichkeit und fühlt sich in der Krise: erst die Wirtschaft, bald der Zusammenhalt Nord-Süd, die Währung, dann Ukraine-Russland, nun die Migration und allerlei nationale Egoismen. Zyniker meinen, Europas Leuchten in der Welt als Kontinent von Wohlstand und Werten wie Demokratie, Liberalität, Solidarität und Menschenrechten sei wie ein Stern, der noch aus der Ferne leuchte, während er in Realität schon schrumpfende Schlacke sei. Zugegeben: Europa hat in letzter Zeit kein vorteilhaftes Bild abgegeben. Doch kein Kontinent geißelt sich so sehr wie Europa.
Auch im Bereich der Ideen wendet sich Afrika von Europa ab- und Asien zu. Der Demokratieschub der 1990er ist gebremst. Gerade Boomländer wie Äthiopien oder Ruanda liebäugeln mit dem chinesischen Entwicklungsmodell, das europäische Demokratie-Standards ignoriert. Peking ist naturgemäß erfreut, Menschenrechtsorganisationen sind es weniger.
… zu Europas Aufgaben und Optionen
Nicht nur globale Warenströme, auch universelle Werte müssten die Modernisierung prägen, Rechtsstaatlichkeit, eine freie Zivilgesellschaft, ist Stoisser überzeugt. Ethik und entsprechende Politik hätten nicht ausgedient – doch müsse der Dialog auf Augenhöhe stattfinden. Längst seien es Afrikaner leid, infantilisierte Opfer zu sein. Doch für eine faire Entwicklung helfen Verzerrungen im Welthandelssystem wie etwa europäische Agrarsubventionen kaum.
Die Bedeutung wachsender Volkswirtschaften führt bereits zu einem verstärkten Erfahrungsaustausch Süd-Süd. „The white man’s burden“ wird weiter abnehmen – was uns freilich nicht unsere politische, technische und finanzielle Mitverantwortung für globale Herausforderungen wie etwa den Klimawandel abnimmt. Auch bei Migration oder Konfliktlösung – Stichwort Staatenzerfall an Europas Süd- und Südostflanke – ist die Zusammenarbeit mit Afrika unabdingbar. Militärische Interventionen allein sichern keinen Frieden.
Alle erwähnten Autoren setzen mit ihrem Afrika-Optimismus einen erfrischenden Kontrapunkt zu verbreiteter Schwarzseherei, auch wenn sie etwas einseitig wirtschaftliche Wachstumsraten preisen: markige Titel sind leichter verkäuflich als ausgewogene Botschaften. Besonders Hans Stoissers auf jahrzehntelanger Afrika-Erfahrung fußenden Analysen aber sind eine auch für Laien spannende Lektüre.
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Hans Stoisser
Der schwarze Tiger. Was wir von Afrika lernen können
Kösl Verlag Random House 2015
207 Seiten, 18.50 Euro
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Christian Hiller von Gaertringen
Afrika ist das neue Asien. Ein Kontinent im Aufschwung
Hoffmann und Campe 2014
288 Seiten, 22.60 Euro
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Andreas Sieren, Frank Sieren
Der Afrika-Boom
Carl-Hanser-Verlag, München 2015
300 Seiten, 22.60 Euro
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JourAfrica
https://journafrica.de/
Deutschsprachiges Onlinemagazin afrikanischer Journalisten und Fotografen