Anna Mitgutschs „Annäherung“
Leere, die alle Wörter löscht
Über die Liebe und die letzten Dinge
Die Presse, März 2016
In Anna Mitgutschs melancholischem Roman von den letzten Dingen sind die Protagonisten mehr als die Summe ihres Scheiterns
Die Autorin setzt uns rasch ins Bild: Theo erleidet mit 96 einen Schlaganfall, von dem er sich langsam erholt. Er beginnt, sein Leben Revue passieren zu lassen: seine Vorfahren aus den Karpaten, seine Kindheit, seine Kriegsjahre im Osten, seine erste, verstorbene Frau Wilma, „deren Überlegenheit ihn einschüchterte und verbitterte“, seine Tochter Frieda, seine nunmehrige Frau Berta. Die benötigte permanente Pflege kann Berta nicht sicherstellen: er ist körperlich hinfällig, und Demenz schleicht sich ein, „die Leere, die alle Wörter löscht.“ Doch die Gedanken und Gefühle bleiben, seine Sehnsucht nach Leben – nicht nur symbolisch in der Hingabe des einstigen Gärtners an das frühlingshafte Aufblühen der Natur.
Anna Mitgutschs zehnter Roman ist in die Jahreszeiten von Theos letztem Lebensjahr getaktet, Winter, Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Theo mag die Hauptperson sein, der sich die Autorin in personaler Erzählperspektive nähert. In etlichen Kapiteln der vielstimmigen Geschichte ist Frieda die Ich-Erzählerin ihrer Suche nach dem Vater. Seit der Schulzeit hat die nun gut Sechzigjährige mit ihm gerungen, mit Wut, Schmerz, ihrem Misstrauen und der Suche nach der Wahrheit über seine Kriegsjahre. Sie wollte „ein Geständnis von ihm erzwingen, etwas, womit wir beide leben können, und dann gäbe es so etwas wie Frieden zwischen uns.“ Er sei nichts als „ein kleines Rädchen, das mitgedreht worden war“, ist dagegen Theo überzeugt. „Ich kann nichts mehr daran ändern. Es war die Zeit, in der ich jung war, eine andere gab es nicht.“ Vater und Tochter tragen wechselseitige Sehnsucht und Abwehr. In ihrer Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, mit ihren Kenntnissen über Bibel, Thora und Talmud spiegelt Frieda wiederkehrende Motive von Anna Mitgutsch, doch weder Handlung noch Personen sind autobiographisch zu interpretieren.
Die Seelen-Seismographin
2015 verlieh die Universität Salzburg der international anerkannten Literaturwissenschaftlerin ein Ehrendoktorrat: Sie habe mit dem literarischen Ausdruck von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, von Ausgrenzungsmechanismen, mit Fragen der Vergangenheitspolitik und existenziellen Themen bedeutende Beiträge zur demokratischen Kultur dieses Landes geleistet. Stets eher am Rand eines aufgeregten Literaturbetriebs ist sie eine große Erzählerin und dabei keine, die mit ihrer Sprache schvordergründig auf Irritation zielt oder Themen zeitgeistig abhandelt. „Die Annäherung“ erzählt nicht entlang politischer Ereignisse, vielmehr von Menschen in ihrer Gesamtheit, ihrem Tun, Denken, Sehnen, den vertanen Chancen. Es ist die feinfühlige Bestandsaufnahme einsamer, bis ans Lebensende Suchender.
Die Figuren sind keine auffälligen Außenseiter. Das Gesellschaftliche kommt auch über manche Nebenfiguren, alle feinfühlig differenziert. In erzählerischen Verzweigungen weiß Mitgutsch Erzählstränge virtuos zu verknüpfen. In dem breiten Panorama eines Jahrhunderts einfacher Leute holt sie teils weit aus und schneidet sehr viele Themen an, über den unrühmlichen Glykolweinskandal bis zum Prekariat osteuropäischer Altenpflegerinnen.
Es mag als Kompensation eines alten Mannes erscheinen, im letzten Aufbäumen nochmals alles bei seinen beiden Frauen und seiner Tochter Versäumte mit einer jungen Pflegerin nachholen zu wollen. Doch die Autorin meint es gut mit ihren Figuren, trotz der Melancholie und manchmal Resignation, die ihnen innewohnt: Frieda, die ihren Aufbruch um 1968 und ihre Ehe als gescheitert betrachten muss, „erscheint das Sinnieren über die Liebe wie überflüssige Selbstbespiegelung“. Mitgutschs Wärme für die innere und äußere Begrenztheit der verletzten Menschen ist bemerkenswert. Selbst für die bodenständige Berta schimmert Verständnis durch, Theos zweiter Frau, die seine Tochter aus erster Ehe von ihm fort drängte, mit ihrer „Eifersucht, die wie alles bei ihr, direkt, handfest, unverhüllt“ war.
Mitgutschs Figuren sind oft unterwegs, wenn auch selten freiwillig. Bei Theo war es einst nicht Flucht, sondern sein soldatischer Irrweg mit der Deutschen Kriegsmaschinerie in den Osten. Seine Tochter Frieda ist die hartnäckige Spurensucherin, nach „seiner Geschichte, ihrer Vorgeschichte“. Nachdem Berta die illegal arbeitende Mila von Theo weg- und zurück in die Ukraine getrieben hat, bittet Theo seine Tochter, Mila in ihrem Heimatdorf aufzuspüren und zu ihm zurückzubringen. Frieda macht sich auf die Reise, begleitet von Edgar, ihrem platonischen Lebensfreund und heimlich gewünschten Liebhaber, einem stillen Einzelgänger. An „ein Echo meiner lebenslangen Sehnsucht zu reisen und nie anzukommen“, erinnert sich Frieda an die seltene kindliche Geborgenheit einer winterlichen Schlittenfahrt mit ihrem Vater. Dessen Auftrag ist für sie auch die Chance, sich nochmals an seine soldatische Vergangenheit zu heften, umso mehr, als er ihr überraschend sein Kriegstagebuch mit auf den Weg gibt. Als Vermächtnis? Als Offenbarung? „Ich wollte freigesprochen werden von seiner Schuld“, hofft Frieda. In wunderbare, knappe Sätze wie diese packt Mitgutsch all den Zwiespalt ihrer Figuren. Doch „es gelingt mir nicht, in die Gedanken jenes jungen Mannes zu schlüpfen“. Bis zum Schluss wird Frieda nicht erfahren, was Theo während seiner Kriegsjahre im Osten alles erlebt und getan hat. „Es müsste viel mehr Wörter zwischen schuldig und unschuldig geben“, meint Edgar tröstend. Auch er findet die verwischten Spuren der Familie seiner jüdischen Mutter nicht. Und Mila kehrt nicht mit ihnen zu Theo zurück, sondern will endlich ihr eigenes Leben in der Ukraine leben.
Mehr als die Summe ihres Scheiterns
Es geht um die großen universellen Fragen – Liebe, wenn auch durchwegs nicht gelebter Liebe, Alter, Rückschau, Schuld, Lebensweisheit, Vergänglichkeit, ein Hauch Vergeblichkeit. Doch die Autorin ist keine Verwalterin literarischer Klugheit. Obwohl die einzelnen Protagonisten kaum zueinander finden: sie sind mehr als die Summe ihres Scheiterns. Der Leser begegnet ihnen auf Augenhöhe, und erlebt dabei immer wieder Momente sprachlicher Mitgutsch-Magie.
Der Titel „Annäherung“ deutet an, dass diese zwar nicht das ersehnte Ziel darstellt – so dieses je erreicht werden könnte. Doch endet der Roman, ohne zu viel zu verraten, mit einer Hinwendung. „Wir haben uns so lange nicht gesehen“, sagt Frieda nach Theos Tod am Telefon zu ihrer Tochter. „Das wird sich jetzt ändern“, lautet deren Antwort. Und das ist der versöhnliche letzte Satz des Buches.
Anna Mitgutsch
Die Annäherung
Roman. 448 S., geb., € 23,70 (Luchterhand Literaturverlag, München)