Über Allah, Buddha, Rama und die 17.000 Gesichter und Schatten Indonesiens im Spiegel seiner Literatur
Indonesien 1965
Der unbekannteste Massenmord des 20. Jahrhunderts
Der Standard, Oktober 2015
Das Blau des Meeres schwindet. Lange vor der Landung taucht die Maschine in graugelben Nebel, in den Rauch von Brandrodungen. Irgendwo dort unten liegen sie, die „17.000 Inseln der Imagination“: das poetische Motto für Indonesiens Auftritt bei der Frankfurter Buchmesse. Es sind eher viele diffuse Flecken in unserer Wahrnehmung der Kulturen jenes fernen Archipels. Neben Reisterrassen und Regenwäldern, den Berichten von Vulkanausbrüchen und Tsunami tauchen Klischeebilder auf: balinesische Tänzerinnen, javanisches Schattentheater, polyrhythmischer Gamelan – so uns jenseits des Liedes vom Surabaya-Johnny etwas in den Sinn kommt. „Wir wissen kaum, was wir über all die Kulturen nicht wissen“, meint Martin Jankowski, Autor und Kenner der Literaturszene des mit 250 Millionen Menschen viertgrößten Landes der Welt. Indonesien nicht nur als Literatur-, sondern als Kulturland vermitteln will Goenawan Mohamad, Jakartas Koordinator für die Buchmesse.
Seit Jahrtausenden kam über das Meer, was Indonesien ausmacht, auch die Religionen: erst der Hinduismus, die Mythen des Ramayana und Mahabharata, dann der Buddhismus mit der Borobudur-Stupa als Weltkulturerbe, später der Islam. Der hat im Inselreich eine synkretistisch- tolerante Form angenommen, anders als zur Rigidität neigende Wüstenvorstellungen.
Blutiges Rot
Die indischen Wurzeln blieben lebendig. Die Versepen, vorgetragen von Bänkelsängern, aufgeführt im Puppentheater oder als Wayang Kulit, populäre Schattenspiele, werden längst auch in Comics und Fernsehserien vermittelt: Die Figuren und Konflikte sind hier gegenwärtiger als bei uns griechische Göttereskapaden oder Bibelgleichnisse. Den Kanon von Mahabharata-Charakteren hat Laksmi Pamuntjak aufgegriffen. Ihr Roman Alle Farben Rot war in Indonesien mit 250.000 Exemplaren ein Bestseller. Amba, die Protagonistin, trägt wie ihr Liebhaber Bhisma den Namen einer Gestalt aus dem Epos. Das Thema kreist um die Schatten eines heuer runden Jahrestags: die Ereignisse von 1965 – Massenmorde, die eine lange Diktatur einleiteten.
1965. Die Dominotheorie ängstigt die USA vor kommunistischen Machtergreifungen, und US-Soldaten landen in Vietnam. In Indonesien werden nach einem kaum geklärten Putschversuch in antikommunistischer und zugleich chinesenfeindlicher Paranoia Hunderttausende umgebracht. Dörfer und Familien spalten sich in Traditionalisten und Erneuerer, Nationalisten und Linke. „Auf Java mussten wir die Leute antreiben, Kommunisten zu töten. Auf Bali mussten wir sie bremsen“, zitiert Adrian Vickers in seinem Klassiker Bali. Ein Paradies wird erfunden General Sarwo Edhy, den „Schlächter von Java“. Auf Bali allein starben binnen Monaten 100.000 Menschen.
Pamuntjaks Liebespaar Amba und Bhisma wird während der Kommunistenjagd 1965 auseinandergerissen. 2006 sucht Amba, mittlerweile 62, auf der einstigen Gefangeneninsel Buru nach Bhismas Spuren. Für das so anspruchsvolle wie ausgezeichnet recherchierte Alle Farben Rot – erotisches, linkes, blutiges Rot – hat Pamuntjak die Form eines vielschichtigen Familien-, Liebes- und Politepos gewählt, mit wechselnden Perspektiven, Zeitsprüngen und Überblendungen mit dem in Indonesiens Denken so präsenten Mahabharata. Pamuntjak verschränkt 1965 und 2006, javanische Widersprüche, Politik und Mythos kunstvoll literarisch. „Mit Amba spürte ich eine große Last der Verantwortung“, sagt Pamuntjak, „gegenüber Menschen, die Schreckliches erlebt haben.“
Literarische Tabubrecher
Die Schleier von 1965 werden langsam gelüftet. Bis 1998, dem Ende der Suharto-Diktatur, waren Indonesiens Killing Fields tabuisierter als in China die Tian’anmen-Ereignisse von 1989. Selbst Jakartas Studenten wissen kaum von den Massakern von 1965/66. Intellektuelle Mittelschichten sind nun offener. Durch literarische Tabubrecher wie Pamuntjak leben die Debatten auf. Aber eine breitere gesellschaftliche Diskussion fehlt weiter, nicht zuletzt in den Dörfern, wo ein Großteil des Schlachtens stattfand und Täter wie Opfer eng zusammenleben. Auch international wurden die Pogrome wenig wahrgenommen. Joshua Oppenheimer allerdings hat sie in seinen Filmen The Act of Killing und Look of Silence packend dokumentiert.
Jakarta 1965, Paris 1968: In ihrem Roman Pulang verbindet Leila Chudori Indonesien und Europa, von den traumatischen Monaten 1965 bis zur Reformasi-Bewegung 1998. Das Figurenpanorama von fünf Familien über zwei Generationen überspannt 35 Jahre, inklusive Pariser Studentenunruhen und heißer Diskussionen – auch würzig-sinnlich fesselnd – im indonesischen Restaurant, das Dimas, einer der Protagonisten, dort eröffnet hat. Pulang ist das indonesische Wort für „nach Hause“. Der deutsche Untertitel lautet daher stimmig „Heimkehr nach Jakarta“: eine Heimkehr aus dem Pariser Exil, doch nur für Dimas‘ französische Tochter. Die Themen Verfolgung, Flucht, Neuanfang und Sehnsucht wecken im westlichen Leser auch durchaus aktuelle Anklänge.
1965 und die Diktatur haben die Lebensgeschichten einer Autorengeneration geprägt, manche unmittelbar wie Pramoedya Ananta Toer, den international bekanntesten. Lange Jahre war Pram auf Buru verbannt. Hier entstand die Buru-Tetralogie in seinem Kopf. Erst im Jakarter Hausarrest ab 1979 schrieb er das literarische Schlüsselwerk über das politische Erwachen unter der niederländischen Kolonialherrschaft nieder. Pram wurde in 37 Sprachen übersetzt und mehrfach für den Nobelpreis nominiert.
„Geliebtes und frustrierendes Land“
„Die Amerikaner waren 1965 sicher nicht traurig, als man hier die Kommunisten abschlachtete. Aber das Töten haben wir allein vollbracht“, sagt Buchmessen-Koordinator Goenawan Mohamad, der auch Menschenrechtsaktivist, Gründer des Polit- und Kulturmagazins Tempo, Lyriker, Förderer neuer Talente sowie einflussreicher Essayist und Produzent ist. Indonesien, das größte muslimische Land und heute die drittgrößte Demokratie der Welt, ist mit sich selbst beschäftigt.
„Ein geliebtes und frustrierendes Land“, meint Laksmi Pamuntjak. „Ich sehe es kritisch, wie jede große Liebe.“ Mit der Staatsdoktrin „Einheit in Vielfalt“ besteht Religionspflicht; das Bekenntnis ist im Ausweis verzeichnet. Offiziell 87 Prozent hängen einem traditionell toleranten Islam an, doch breitet sich der Fundamentalismus aus. Es gibt zentrifugale Kräfte von Aceh an der Nordwestspitze Sumatras, „Allahs Balkon nach Mekka“, bis zu den Molukken, Timor und Neuguinea im Osten, Konflikte zwischen Christen und Islamisten, Terrorismus wie die Bali-Attentate. Die Zensur ist vorbei, aber nicht der Druck, etwa von religiöser Seite. Pamuntjak sucht literarisch und essayistisch Verständigung zwischen der Moderne und dem Islam. Nach den Charlie-Hebdo-Anschlägen schrieb sie von jenen „Muslimen, die den Alliierten dabei halfen, den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen“.
Die meisten Autoren kommen aus Java, von der Zentralinsel in der Größe Österreichs und der Schweiz, auf deren fruchtbaren Ebenen zwischen Feuervulkanen sich 140 Millionen Menschen drängen. Der Ballungsraum Jakarta mit 25 Millionen Einwohnern ist auch das intellektuelle Zentrum. Trotz patriarchaler Strukturen haben wie in anderen Ländern Süd- und Südostasiens Frauen eine starke Rolle in Politik und Gesellschaft. Viele Autorinnen der Angkatan 2000, der „2000er-Generation“, gaben dem Schweigen in der Gesellschaft eine Stimme. Als Sastra wangi, „duftende Literatur“, wurden die rebellischen Autorinnen zunächst belächelt, vergleichbar mit „Fräuleinwunder“. Doch sie schreiben über heiße Eisen, über Korruption, Fundamentalismus, Sexismus, über das chaotische Leben zwischen Tradition, Islam und Postmoderne.
Literarische Fahnenträgerin
Zur literarischen Fahnenträgerin der Reformasi, des politischen Umbruchs 1998, wurde Ayu Utami. Ihr Debütroman Saman erschien exakt zum Ende der Ära Suharto – und traf einen Nerv: inhaltlich ein Tabubrecher mit selbstbestimmten Frauenfiguren und der Thematisierung von Politik, Sex, Landkonflikten und Chinesenhass, formal in seiner freimütigen Sprache und der postmodernen Erzählweise mit unterschiedlichen Perspektiven und Zeitebenen. Larung, der nun auf Deutsch erschienene zweite Roman, schließt an Saman an und führt – kreisend um die Triade Macht, Geschlecht und Religion mit teilweise demselben Figurenkreis wie Saman – von balinesisch-javanischem Geisterglauben über 1965 ins New Yorker Exil und zurück zum Widerstand gegen die Suharto-Diktatur. In Larung greift Utami literarisch etwas auf, das sie seither in Romanen und bestechend klugen Essays weiterentwickelt: eine moderne „kritische Spiritualität“ gegen religiöse Gewalt.
Junge, modisch-urbane, gebildete Frauen haben Jakartas Kulturszene aufgemischt, allen voran Dewi „Dee“ Lestari. Ihren Fortsetzungsroman Supernova stellte die Sängerin und Filmemacherin in einem Einkaufszentrum vor. Mit den Themen Prostitution oder Homosexualität vereinte sie Gesellschaftskritik und popliterarische Fantasy-Elemente. Goenawan Mohamad würdigte es als witziges Werk, das in frischem Ton spielerisch komplexe Themen aufgreift.
Katrin Bandel, Literaturwissenschafterin und Übersetzerin, ist skeptischer. Die in Yogyakarta, dem Kulturzentrum Zentraljavas, lebende Frau des kritischen Dichters Saut Situmorang meint, der kommerzielle Erfolg mancher provokanter Frauen basiere nicht immer auf literarischer Qualität, sondern auf der Sensationswirkung des kulturellen Tabubruchs. Die thematische Verengung auf Frauen und Sex sei ein pseudofeministisches literarisches Verlustgeschäft.
Engpass Übersetzungen
Und es gibt einen konservativen Backlash einer erfolgreichen islamischen Herz-Schmerz-Fiktion mit klischeehaften Figuren und der Religion als Problemlösung für alles. „1998 war der repressive Staat unser Feind. Die Menschen wollten Toleranz und Freiheit. Und heute Sicherheit. Letzteres versprechen religiöse Gruppen“, warnt Ayu Utami. Auch die rebellische Muslimin Linda Christanty schreibt gegen Fanatismus und Fundamentalismus. In Frankfurt wird sie Essays und Reportagen aus der heute von der Scharia geprägten vormaligen Bürgerkriegsprovinz Aceh und anderen Unruhegebieten Südostasiens vorstellen. Ihre an magischen Realismus erinnernden Erzählungen und Romane gibt es bislang fast nur auf Indonesisch und Englisch, wie auch Beauty is a wound von Eka Kurniawan, ebenfalls ein magischer Realist. Von Letzterem hat es zumindest Tigermann, eine Geisterbeschwörung der 1965er-Jahre, soeben im Ostasienverlag in das Deutsche geschafft.
„Übersetzungen haben seit undenklicher Zeit Kulturen verbunden“, sagt John H. McGlynn. „Selbst heute, wo uns die globale Wirtschaft und das Internet verbinden, ist der Bedarf groß.“ McGlynn war im Vorbereitungsteam für Frankfurt und hat 1987 die Lontar Foundation in Jakarta mitbegründet, die Übersetzungen unterstützt. Basar-Malaiisch war über Jahrhunderte die Lingua franca des Archipels der hunderten Sprachen. Die Bahasa Indonesia wie auch die fast idente Bahasa Malaysia sind daraus hervorgegangen. Anfangs Kunstprodukte, sind diese modernen National- und Literatursprachen heute bereits Muttersprache von Millionen junger Menschen. Und sie sind, meint Ayu Utami, egalitärer als etwa Javanisch mit seinen hierarchischen Abstufungen.
Gastländer begannen oft Jahre vor ihrem Frankfurter Auftritt mit der Förderung von Übersetzungen – Indonesien erst im letzten Moment. 70 indonesische Autoren, darunter viele brillante Frauen, lesen in Frankfurt aus 200 Werken. Nicht alle liegen auf Deutsch vor.
Indonesischer Erfolgsroman
Der 40-jährige Andrea Hirata (siehe „Moral wird zu einer globalen Herausforderung“) ist eine Ausnahme. Die Regenbogentruppe aus dem Jahr 2005 ist mit fünf Millionen der meistverkaufte indonesische Roman, wurde in 25 Sprachen übertragen und hat auf Deutsch 2013 einen Publikumsverlag gefunden. Hiratas autobiografisch gefärbter Entwicklungsroman zeichnet den Weg aus der Armut zur Bildung nach. Namensgeber ist eine Gruppe talentierter Jungen auf der kleinen Zinninsel Belitung, die jenseits des Herumstreunens auf ihren alten Fahrrädern von engagierten Lehrerinnen und Lehrern liebevoll gefördert werden.
Der Träumer, heuer auf Deutsch erschienen, ist Band zwei. Er führt den Protagonisten Ikal zusammen mit seinem Freund Arai im Wissensdurst durch Krisen und Zweifel, zuerst auf eine weiterführende Schule und letztlich mittels Stipendium nach Europa. Alle Bände der Fortsetzungsromane (auf Indonesisch sechs) sind anekdotenreich, mit sich wiederholenden Spannungsbögen: Plan – Problem – Lösung. Die leichte Struktur mit märchenhaften Elementen stellt den breiten Erfolg sicher und ist auch als Urlaubslektüre geeignet.
Für Buchmesse-Direktor Jürgen Boos ist Indonesien mit seiner jungen Bevölkerung ein Wachstumsmarkt, was heißt: Bislang wird trotz Alphabetisierung jenseits der 90 Prozent wenig gelesen. Dabei lieben Indonesier Geschichten, aber „man hört sie in der Gruppe“, meint der Lyriker und Rilke-, Celan- und Enzensberger-Übersetzer Agus Sarjono.
Der populäre Dichter Willibrordus Rendra etwa – neben Pram mehrmals Nobelpreiskandidat – verkaufte wenige Bücher. Seine Lesungen, sprich: Performances aber waren ausverkauft, obwohl der Eintritt mehr kostete als eine Werkausgabe all seiner Gedichte. Der Österreicher Martin Amanshauser, der 2002 bei Literaturfestivals auf Sulawesi und Java den erkrankten Raoul Schrott vertrat: „Wir lasen vor Auditorien, die mit 2500 Studenten gefüllt waren. Es herrschte unglaubliche Begeisterung.“
Rezitationstraditionn
In Indonesien mit seiner Rezitationstradition ist Lyrik anerkannter als in Europa, und Studenten kennen unvergleichbar mehr Verse. „Poetry Slams, die moderne Form des mittelalterlichen Dichterwettstreits, werden bei uns noch als innovativ empfunden“, sagt Indonesien-Experte Martin Jankowski. Dort nehmen junge Leute seit Jahrhunderten an Wettbewerben teil, „Dichter tragen ihre Texte mit viel Pathos und Gestik vor. Bands vertonen die Verse, melancholisch, mystisch, verzaubernd.“ Dramatische Aufführungen mit Tanz, Musik, Rhythmus und Improvisation sind Teil des Kultur- und Alltagslebens. „Wir Indonesier sind gesellig und lieben eine gute Dosis Lärm“, sagt Goenawan Mohamad. „Wir haben keine langen Winter, in denen wir drinnen sitzen, um Krieg und Frieden zu lesen.“
Früher waren die Dalang Schattenspieler der Worte, mit ihren aus Mythen und Volkssagen gespeist Erzählungen. Heute verlagert sich die literarisch-poetische Kreativität ins Internet, hin zu Blogs, Facebook, Twitter und SMS. Agus Sarjono hat zusammen mit Berthold Damshäuser Sprachfeuer herausgebracht, eine Lyrikanthologie, von der 81-jährigen Grande Dame moderner indonesischer Poesie Toeti Heraty bis zur sprachgewaltig-scharfen Tabubrecherin Dorothea Rosa Herliany.
Koordinator Goenawan Mohamad hofft, dass nach der Buchmesse Indonesien, wo seit je Kulturen und Religionen und heute Tradition und Postmoderne in einer heterogenen Gesellschaft aufeinanderprallen, nicht mehr als „Haufen von Balitänzern, korrupten Beamten und Tsunami-Opfern“ wahrgenommen wird. Angesichts etlicher spannender Autorinnen stehen die Chancen dafür nicht schlecht.