„Russland reagiert wie ein enttäuschter Liebhaber“
Die in Kiew geborene und in St. Petersburg aufgewachsene Soziologin, Menschenrechtsexpertin und Memorial-Mitglied Anna Schor-Tschudnowskaja über Sowjetnostalgie, Moskaus Lügen und die allzu nachgiebige Haltung des Westens (link zum Gespräch oben im Namen „Anna Schor-Tschudnowskaja“ )
Wiener Zeitung, August 2015
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Frau Schor-Tschudnowskaja, der Historiker Eric Hobsbawm hat vom „kurzen 20. Jahrhundert“ gesprochen, das von 1914 bis 1989 dauerte. Doch sind wir aus dem 20. Jahrhundert je herausgekommen?
Anna Schor-Tschudnowskaja: Ich glaube eher nicht an solche Abgrenzungen. Der soziale Wandel ist immerwährend, wenn auch nicht unbedingt linear. Aber dennoch würde ich zustimmen: wir sind noch nicht aus dem 20. Jahrhundert herausgekommen. Sollte es ein Jahrhundert der linken Ideen und des Versuchs sein, die Welt danach umzugestalten, so ist dieser Versuch noch nicht vorbei. Aber auch Lager, Lüge, Manipulation, totalitäres Denken und politische Irrationalität haben ihr Werk nicht abgeschlossen. Und vieles in der Zukunft wird davon abhängen, welche Lehren wir aus dem 20. Jahrhundert ziehen können und wollen.
Politische Entwicklungen verlangen oft nach Festlegungen, die man selbst früher vielleicht nicht treffen wollte oder musste: Russin, Ukrainerin: Wie würden Sie sich selbst sehen?
Ich wurde in Kiew geboren. Nach dem Tschernobyl-Desaster übersiedelten meine Eltern mit uns nach St. Petersburg. Ich bin ein Kind der Sowjetunion. Nachkriegskinder etwa in Deutschland bezeichnen sich 60 Jahre später noch immer als solche, auch ohne dass sie dem Krieg oder der Nachkriegszeit nachtrauern. Es ist eine eigene Prägung.
Wie können Sie uns im Westen diese Prägung veranschaulichen? „Nur ein Sowjetmensch kann einen Sowjetmenschen verstehen“, schreibt die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch.
Es ist tatsächlich schwer zu erklären, verbunden mit all dem Sinnlichen, den Bildern und Worten der Kindheit. Ich versuche, meine eigenen Rätsel zu entziffern. Bis zum Alter von 10, 11 Jahren erschien es mir fast peinlich, so ein glückliches Land wie die Sowjetunion ergattert zu haben, bei all dem Elend in anderen Teilen der Welt. Es fußte auf allgegenwärtiger Propaganda, war eine Prägung aus dem Kindergarten, später der Schule. Wir fühlten uns als glückliche Kinder, harmonisch geborgen. Meine Eltern wussten natürlich mehr von der Schreckensgeschichte. Und nicht nur Geschichte, mein Vater wurde vom KGB vorgeladen, als ich schon in der Schule war. Aber meine Eltern schonten mich – um mich nicht zu verunsichern, und um mir Schwierigkeiten in der Schule zu ersparen.
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Und später? Gab es eine Zäsur?
Der Stolz hielt auch während meiner Jugend, durch die Zeit der Perestroika. Ein erster Knacks passierte 1991, mit dem Moskauer Putschversuch. Der endgültige Einbruch kam für mich, aber auch viele andere mit den Bildern des ersten Tschetschenienkrieges 1994-96. Es war ein Gefühl von Unglauben: „Das ist nicht mein Land, das hier bombardiert.“
Wie freiwillig waren denn je die Verbindungen der Sowjetrepubliken?
Natürlich sehr unterschiedlich, vom Baltikum über den Kaukasus bis Zentralasien. Am attraktivsten erschien es klarerweise für Russland, es war ein Identitätsgewinn: Wir sind die Urheber der Befreiung, einer tollen Ideologie, einer Gesellschaftsordnung, die für alle verheißungsvoll ist, verbunden durch Russisch als der Sprache Lenins.
Und heute?
Gerade für Russen bedeutete der Zerfall der Sowjetunion den größten Verlustschmerz: Verlust von Boden, von Einfluss, aber auch von Anziehungskraft. Der Umgang mit dem Verlust heute sind irrationale Versuche, die Einflusssphäre und Stärke wieder herzustellen. Es bleibt bei der Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, aber auch nach dem Gefühl, über andere dominieren zu können, ein Imperium zu sein: es fehlt die Wertebasis.
Kommt Putins Mission für russische Werte, für ein besseres, konservatives, traditionelles Europa im Verein mit westlichen Rechtsparteien bei den Menschen an?
Es kommt sehr gut an! Aber das Gerede von einer Alternative zum verfaulten Westen ist inhaltsleere Propaganda. Es ist, als ob man vor einem Haufen Ziegelsteinen steht und ohne Fundament und Fugenmasse ein neues Gebäude errichten will.
Und wie ist die Einstellung in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken?
Dort hat Russland durch die Entwicklung der letzten Jahre keine Freunde mehr, auch nicht jenseits des Russland-kritischen Baltikums oder Georgiens. Es bleiben einzig massive ökonomische Abhängigkeiten, von Weißrussland über Armenien bis zu manchen Republiken Zentralasiens.
Wirtschaftlichen Druck hat Moskau auch gegenüber der Ukraine versucht.
Ja. Doch trotz unserer traurig hohen Gewaltbereitschaft in den zwischenmenschlichen Beziehungen, in der Familie, bei der Kindererziehung, in Geschäftsbeziehungen, gegenüber abtrünnigen Republiken, innerhalb der Armee gegenüber Rekruten: Russland will dennoch auch bewundert, beneidet, ja geliebt werden. Gegenüber der Ukraine hat Russland daher mit paternalistisch-männlicher Eifersucht wie ein enttäuschter Liebhaber reagiert.
Wie sieht Russland die Ukraine?
Bei all den unterschiedlichen Wahrnehmungen dominiert die Überzeugung: „Eigentlich“ gehört die Ukraine zu uns, wir sind geschichtlich so eng verbunden. Die Unabhängigkeit der Ukraine wurde lange als kindliche Laune abgetan.
Was macht umgekehrt heute jemanden zum Ukrainer, zur Ukrainerin, der Russisch als Muttersprache spricht wie Sie?
Russland bleibt meine Heimat, genauso wie Kiew und die Ukraine. Es ist jetzt eher eine politische Zuordnung aus Solidarität: es ist die Entwicklung in Russland, die für viele immer abschreckender wird, so dass man sich eher
mit der Ukraine solidarisieren möchte.
Die Sprachenfrage ist nicht entscheidend?
Die Sprachenfrage war nie maßgeblich. Diese wird instrumentalisiert, besonders von russischer Seite. In der Ukraine wird sich das wieder beruhigen.
War die westliche Euphorie bezüglich der Demokratisierung Russlands um 1990 naiv? Zu glauben, unser Gesellschaftsmodell politischer Partizipation sei attraktiv – und letztlich überlegen?
Wir haben uns wohl alle getäuscht: Wir haben den Traum vom Wandel der politischen Kultur für die Wirklichkeit gehalten, doch wir haben die Rigidität unterschätzt. Russland war nie eine politisch mündige „Demokratie von unten“. Und wir haben lange an der Illusion festgehalten, Russland wäre – trotz aller Rückschläge – auf dem richtigen Weg.
Manches scheint uns im Westen schwer verständlich, etwa die mangelnde Aufarbeitung, ja manchmal Verherrlichung der Stalinzeit.
Gegenüber der Vergangenheit besteht eine seltsame Gefühlsstarre, auch innerhalb der Familien. Bei meinen Befragungen junger Menschen über jene Zeit zeigt sich wenig Mitgefühl, selbst wenn es, wie bei den meisten, Säuberungsopfer in der eigenen Familie gegeben hat. Die 1930er Jahre werden als geradezu idyllische Zeit dargestellt: Es gab kaum Alltagskriminalität, es herrschte Ordnung, auch wenn es eine totalitäre war. Darüber hinaus gibt es irrationale Elemente. Als in Moskau einmal mein Taxi im Stau steckte, explodierte der Fahrer und rief: „Stalin hätte euch alle umgebracht!“
Noch immer aber bedeutet die Stalin-Zeit den Triumph im vaterländischen Krieg, Befreiung, den Sieg einer gerechten Sache. Und sie bedeutete Macht. Heute dagegen wird das Gefühl gefördert, „man hat uns betrogen, hat uns Land und Größe genommen“.
Wie sehen Sie den Umgang der westlichen Welt mit der Ukraine-Politik Russlands?
Auch wenn es die Medienhysterie in Russland von angeblichen Faschisten in Kiew und einer westlichen Verschwörung anders darstellt: Putin hat bei seiner Vorgangsweise auf der Krim und dann im Donbass keinen nennenswerten Widerstand des Westens wahrgenommen. Die Wirtschaftskrise in Russland ist nicht Konsequenz der Sanktionen, sondern Ergebnis der einseitigen ökonomischen Abhängigkeit von Rohstoffexporten und des Preisverfalls.
Wie kann, wie sollte der Westen Ihrer Ansicht nach reagieren?
Die internationale Rechtsordnung ist herausgefordert. Wirklich schmerzhaft für Moskau wären spürbare Konsequenzen, wie Ausschluss vom internationalen Bankensystem oder die Vermeidung des russischen Luftraumes, um Einnahmen aus den Überfluggenehmigungen zu reduzieren.
Gerade in Österreich scheint Verständnis für Putins Politik verbreitet zu sein. Nicht nur die heimische Wirtschaft glaubt, in der Vergangenheit mit der Neutralität recht gut gefahren zu sein, und würde gerne wieder so verfahren.
Ich bin immer wieder sehr erstaunt. Es kommt mir so vor, als ob Neutralität hierzulande oft als moralfreie Zone interpretiert wird, wo man es sich mit allen gut stellt und dabei lukrative Geschäfte macht. Ich vermisse jenseits der Medien eine klarere politische Haltung, auch ein Engagement der Zivilgesellschaft zu Putins Politik. Österreichs Menschenrechts-NGOs sollten lauter sein. Auch Studenten sind kaum vernehmbar.
Unser Blick ist oft auf die Großmacht fixiert, auf Putin als Feindbild. Was können wir tun, um die russische Zivilgesellschaft, die letzten verbliebenen unabhängigen Medien und die kritische Kultur zu unterstützen?
Unmittelbar sehr wenig, fürchte ich. Jede direkte Hilfe bringt die Opposition wegen des Gesetzes über „ausländische Agenten“ in Gefahr. Der Westen soll vor allem zu seinen Werten stehen. Man erwartet von russischen NGOs, Kulturschaffenden oder Journalisten, Widerstand zu leisten. Aber gleichzeitig zeigen nicht nur ehemalige westliche Politiker mit ihren persönlichen Interessen Verständnis für Lügen, sondern auch Regierungen oder Meinungsbildner sind gegenüber Moskau nachgiebig: dann fühlen sich die kritischen Menschen in Russland verraten. Der Westen als politische Wertegemeinschaft verliert in Russland sowohl bei den Herrschenden wie auch bei der Opposition zunehmend seine Glaubwürdigkeit, und macht die politische Aufklärungsarbeit der Menschenrechtler zunichte.
Ich würde dem Westen sagen: Steht zu euren Werten! Nicht minder wichtig ist, konsequent die Lügen zu entlarven, und nicht selbst Opfer von Propaganda und Manipulation zu werden. Russland diffamiert etwa die Maidan-Bewegung als Faschisten. Und lädt gleichzeitig Rechtsextreme aus ganz Europa zu sich ein.
Die wichtigste Erkenntnis ist aber wahrscheinlich, dass der Westen kein Instrumentarium hat, um einem Diktator mit Atomwaffen entgegenzutreten, der seine territorialen Wünsche umsetzt und die Weltordnung herausfordert. Man muss der Ukraine fast dankbar sein, diese Schwachstelle aufgezeigt zu haben.
Der russischen Kultur wird eine hohe Leidensfähigkeit nachgesagt. Stimmt das?
Vielleicht. Aber selbst wenn es stimmt: diese Leidensbereitschaft gilt nicht für die Eliten. Die sind kaum bereit, bei ihrem neuen Luxus zurückzustecken, wenn der „kleptokratische Karneval“, wie es ein Journalist einmal nannte, zu Ende geht. Von unten sehe ich kaum Veränderung.
Das klingt nicht sehr optimistisch.
Leider. In Russland herrscht eine Opferhaltung, die wohl auch anderswo nicht gänzlich unbekannt ist. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den eher chaotischen 90er Jahren fühlt man sich als Opfer: als Opfer der Oligarchen, der liberalen Reformer, des Westens. Diese Opferhaltung macht die Gesellschaft passiv und dem Staat ergeben. Feindbilder wechseln, einmal Juden, dann Oligarchen, dann Kaukasier, jetzt Ukrainer. Propaganda dekretiert, wen ich zu hassen habe.
Und wie sehen Sie die weitere Entwicklung in Russland?
Der Fall des sowjetischen Regimes und der Zerfall des Imperiums waren nicht die einzigen Herausforderungen. Angesichts der Postmoderne und der Globalisierung gibt es in Russland eine starke Sehnsucht nach festen Werten und klaren Orientierungen. Die derzeitige gemachte Hysterie wird wieder schwächer werden, die Euphorie über die Krim- annexion wird verblassen, und Putin wird eine neue Legitimation seiner Macht brauchen. Vision zur Entwicklung des Landes hat er aber keine.
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Anna Schor-Tschudnowskaja wurde 1974 in Kiew geboren, 1986 übersiedelte die Familie nach Leningrad. Sie ist Mitglied der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“. Die Soziologin und Psychologin hat zahlreiche Bücher und wissenschaftliche Publikationen zu Gesellschaft und Politik in der UdSSR und in Russland verfasst, vor allem zu den Themen sowjetische bzw. postsowjetische Mentalitäten und aktuelle politische Entwicklungen in Russland, kollektives Gedächtnis und Massenpsychologie. Sie ist zu diesen Themen eine international gefragte Expertin. Zur Zeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien, und arbeitet u.a. an einem Projekt des Wissenschaftsfonds FWF über Erinnerungskultur, selektive Wahrnehmungen und Deutungsmuster über die Sowjetzeit als Beeinflussungsfaktor für die zukünftige Entwicklung Russlands.
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Von der im Gespräch erwähnten und international ausgezeichneten Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch sind u.a. „Die letzten Zeugen: Kinder im Zweiten Weltkrieg”, “Der Krieg hat kein weibliches Gesicht” oder “Zinkjungen” (zum Krieg in Afghanistan) auch auf Deutsch erschienen, zuletzt „Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ 2013 bei Hanser Berlin.