Chigozie Obiomas „Der dunkle Fluss“
Strebsamkeit, Geisterglaube und Unheil
Vom Kulturwandel und dem Auseinanderbrechen einer nigerianischen Familie
Wiener Zeitung und Glanz & Elend Juli 2015
1993 schienen Samuel Huntingtons Thesen vom Clash of Civilizations erstmals in der US-Zeitschrift Foreign Affairs – und der Mythos neuer, globaler Konfrontationen war geboren. Schon lange zuvor war der Zusammenprall von Glaube, Wertvorstellungen und Gepflogenheiten Stoff für Schriftsteller. So auch für Chinua Achebe, den 2013 verstorbenen »Vater der modernen afrikanischen Literatur«. Väterliche Autorität nach innen, Mittler Afrikas nach außen: Achebe hatte Nigeria auf die literarische Landkarte gebracht. Er beschrieb die Umwälzungen in seiner Heimat durch Kolonialismus, Christentum und schließlich modern-westliche Wertvorstellungen. Und er griff Identitätsfragen auf, schrieb gegen Klischees (»Herz der Finsternis«) und stereotype Zuschreibungen in den mühsamen und oft gewalttätigen Transformationsprozessen in Schwarzafrikas Gesellschaften. Besonders mit Familiengeschichten lassen sich die Brüche abarbeiten.
Kann eine Familie am Zerfall von Werten scheitern? An archaischen Strukturen? An der Macht eines Zaubers? Am mangelnden Glauben an sich selbst? Oder, im Gegenteil, an Hybris? Oder eben am Aufprall von Tradition und Modernisierung. Kaum eine einzelne Erklärung ist je für ein Auseinanderbrechen ausreichend. »Der dunkle Fluss«, der Debütroman von Chigozie Obioma, ist persönlich gefärbt. Vier Brüder wachsen behütet in Akure auf, einer mittleren Stadt des Landes. Bis der strenge Vater mit seinen westlichen Bildungsambitionen für die Söhne als Beamter in den Nordosten versetzt wird. Die Mutter ist überfordert, die patriarchale Familienstruktur löst sich auf.
Auslöser eines Unheils biblischen Zuschnitts ist ein jungenhaftes, harmloses Abenteuer: Die vier Brüder gehen an den Omi-Ala fischen, einen einst göttlich verehrten, nun verschmutzten Fluss, und übertreten damit väterliche wie auch traditionelle Regeln. Sie werden von einem Nachbarn verraten, und der Fluch eines verrückten Wahrsagers verfolgt sie. Die düstere, sich selbst erfüllende Prophezeiung wird zu einer modernen Kain-und-Abel-Familientragödie. Erzähler der Schuldparabel von zersetzendem Argwohn, Hass und schließlich Mord ist der zu Beginn neunjährige Benjamin, der jüngste. Am Ende sind zwei der Brüder tot, einer verschwunden, und Benjamin selbst sitzt hinter Gittern.
Obiomas Sprache ist bilderreich und entwickelt in bester Erzähltradition einen mitreißenden Sog, auch wenn dabei manche Gestik, Mimik und Emotion der Brüder überzeichnet wird. Obiomas (oft Tier-)metaphorisch aufgeladener Roman ist eine Familien- und auch eine Konfliktgeschichte zwischen der Moderne auf der einen und dem Glauben, dass alles Unglück von dunklen Kräften kommt, auf der anderen Seite. Obioma schöpft aus einheimischer Mythologie und Geisterglaube, aus christlichen Bildern und aus westlicher Rationalität. »Die Geschichte bewahrt unsere Nachfahren davor, wie blinde Bettler in die Stacheln des Kaktuszauns zu fallen. Die Geschichte ist unser Begleiter, ohne sie sind wir blind,« meinte Chinua Achebe einst. Er beschrieb, interpretierte, aber lieferte natürlich keine Lösungen. »Alles zerfällt« hieß Achebes bekanntester Roman – in 50 Sprachen übersetzt, 10 Millionen mal verkauft. Alles zerfällt ist auch ein Leitmotiv von Obiomas Geschichte: »Menschen können eine falsche Weggabelung nehmen, ebenso wie ein ganzes Land«, sagt er im Gespräch, auch wenn die Politik der destabilisierten Nation nur Begleitthema seines Debüts ist.
Negativschlagzeilen dominieren unser Afrika-Bild, und Nigeria ist zur Projektionsfläche unserer Ängste vor scheinbar unkontrolliertem Bevölkerungswachstum, Gewalt und Migration geworden. Boko Haram, Ölpest, Misswirtschaft: Je kaputter ein Land und seine Gesellschaft, desto fruchtbarer die Literatur, ist ein gängiges Bonmot. Wie viele andere afrikanische Schriftsteller lebt Obioma abwechselnd in Europa und den USA. In Nigeria hätte er sein Buch nicht schreiben können, meint er: Der Klang einer Trommel sei aus der Ferne klarer als aus der Nähe, heißt es bei den Ibo, seiner Ethnie. Der dunkle Fluss ist der vom Deutschen Verlag gewählte Titel, und kratzt damit etwas an den Afrika-Klischees im Stile »Herz der Finsternis«. Das Original lautet schlicht The Fishermen, die Fischer.
Transformations- und Identitätsfragen treiben etliche der Afropoliten um, jene junge Generation von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die als literarisch erfolgreiche Weltafrikaner zwischen den Kontinenten und Kulturen jonglieren und auch in Talkshows gerne gesehene, eloquente Gäste sind. Auch wenn internationale Politik und Wirtschaft nie nur friedlich waren: Der globale Austausch hat gerade den »Westen« (oder sollte man hier sagen: den »Norden«) zu dem Reichtum gebracht, den wir heute schätzen, meint der Weltensammler-Autor Ilija Trojanow in seiner Kampfabsage gegen Huntingtons Thesen, gerade auch bei Kultur- und Alltagsphänomenen wie der Kunst, Musik, Mode oder der Esskultur.
Gegen Schluss, nachdem alles zerstört scheint, glimmt auch am dunklen Fluss noch ein Schimmer Hoffnung auf. »Ich öffnete die Augen, räusperte mich und fing noch mal von vorne an« ist der letzte Satz von Benjamin, Obiomas Ich-Erzähler.