Erinnern, Vergessen: Gift und Gegengift
Cécile Wajsbrot: Die Köpfe der Hydra
Wiener Zeitung, Jänner 2013
Der Verlust von Autonomie und Sprache, das Verlöschen der Erinnerung: Was bleibt in der fortschreitenden Dämmerung vor der Nacht von dem, was uns zum Menschen macht? Literatur und Film versuchen, dem Angstthema Demenz schöpferisch beizukommen: „Eine Geschichte“ ist die vage Genrebezeichnung der „Köpfe der Hydra“ von Cécile Wajsbrot.
Es ist ein autobiographischer Text: ihre eigene Geschichte, die ihres Vaters, und weist doch weit darüber hinaus. Sie handelt von Migration und Nicht-Zugehörigkeit der Autorin als Tochter polnisch-jüdischer Eltern, vom Schweigen zwischen den Generationen, von der Last des Erinnerns und der ungewissen Erleichterung durch Vergessen.
Wajsbrot schiebt weder voyeuristisch ihren betroffenen Vater noch die Krankheit nach vorne, um einen literarischen Mehrwert abzuschöpfen. Es ist ein persönliches Journal, nicht zur Herausgabe bestimmt. Es dekliniert die Anstrengung, die Angst vor dem, was auf den Vater zukommt, auch auf die von Wahnvorstellungen heimgesuchte Tante, und nicht zuletzt auf die Autorin selbst.
Das Journal enthüllt ihre eigene Hilflosigkeit, Wut, Erschöpfung und Trauer, ohne je narzisstisch um ihre Bürde zu kreisen. Es beinhaltet mehr Beobachtungen und Fragen als Schlüsse.
Ein Dutzend Bücher hat Wajsbrot, die in Paris und Berlin lebt, bisher geschrieben. Ihre Sprache ist musikalisch, manchmal tastend, selten ein gehetztes Stakkato, dabei durchwegs tief und dennoch so unpathetisch wie leicht lesbar. Schreiben ist für die herausragende Autorin Gift und Gegengift zugleich, die Literatur Erinnerungsarbeit und Anker.
Es ist ein riskanter Tauchgang in die familiäre Vergangenheit wie auch in jene Frankreichs, das lange der Résistance als einem Pfeiler nationaler Identität gehuldigt und seine Verstrickung in den Holocaust geleugnet hat. Und wo nun polnische Arbeitsmi- grantinnen Wajsbrots Vater pflegen, der als Junge dem Antisemitismus in Polen entflohen war: als ob sich auch so ein Kreis auf paradoxe Weise schließen würde.
„Man kann nicht sein eigenes Leben und das der Eltern noch dazu leben“, sagt Wajsbrot im Gespräch. Auch vom Kampf gegen die Einflüsse der Familie (der das Bild der vielköpfigenHydra gilt) handelt diese „Geschichte“.