Schwebende Aufmerksamkeit – Gegen mediale Bilder sehen lernen
Angelika Overath: Fließendes Land
Glanz&Elend, November 2012
Für ihre literarischen Reportagen wurde sie mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Im Roman »Nahe Tage« ist sie in die eigene Vergangenheit hinabgestiegen, durch »Flughafenfische« hat sie eine magische Fiktion geschaffen. »Alle Farben des Schnees« war ein poetisches Journal durch die vier Jahreszeiten ihrer neuen, fremdsprachigen Heimat, wohin sie 2008 mit Mann und jüngstem Kind gezogen ist.
»Fließendes Land« ist das jüngste Buch des sprachlichen Vielfachtalentes Angelika Overath. Es sind durchwegs kleine Texte, Portraits, sensible Reportagen und poetologischen Essays. Sie reichen zurück in ihre Kindheit, in ein Deutschland der sechziger Jahren, bereisen prekäre Landstriche der Jugend in den Siebzigern. Viele der Geschichten handeln vom Aufbruch, von Ankünften, einem Neubeginn, aber vor allem vom unterwegs sein.
Die Titel-gebende Geschichte »Fließendes Land« bringt uns in einer Winterreise an einen immer wieder überfluteten, verschobenen Landstrich an der Nordsee. Das mag auch für das sprichwörtlich weite Land der Seele, der Sprache, manchmal des Schweigens stehen. Die Autorin taucht in der Vergangenheit, beobachtet fein und vermag Empfindungen ohne Pathos oder narzisstische Nabelschau zu vermitteln. Es sind unprätentiöse wie eigenwillige Beschreibungen, die sofort an einen fremden Ort versetzen, oder zurück in unsere eigene Kindheit, die Jugend, mit all den dazugehörigen Gefühlen und Gerüchen. Overath ruft Bilder der Aufmerksamkeit wach, bewahrt Stimmungen, ohne sie zu fixieren. Die Sprache fließt, so wie unser Bewusstsein, doch die Beobachtungen der literarischen Journalistin sind genau, selbst dann, wenn sie nur Konturen skizziert und Leerstellen lässt, wo Worte nicht hinreichen.
Manchmal verschränkt sie Autobiographisches mit literarischer Fiktion, schafft fließende Überleitungen von einem Genre zum anderen, wandert vom Außen zum Innen, vom Alltag zum Ausnahmezustand, rutscht vom Glück zur Angst ab und gleitet wieder zurück. Overath macht neugierig auf Weltgegenden und Gegenwelten. Sie führt uns von der Lesecouch geradewegs an einen postsowjetischen Un-Ort, dann in die pazifische Inselwelt, in ein Museum, ins Kloster, in ein Altershospiz.
Die Texte sind zu unterschiedlichen Zeiten entstanden, und einige sind bereits in Medien wie der Neuen Zürcher Zeitung erschienen. Dennoch ergeben sie in der Zusammenstellung ein Ganzes. Die Sammlung ist ähnlich einer Symphonie in Sätze getaktet, mit symbolischen Zyklus-Überschriften wie »Fegefeuer« (Kindheit und Jugend), »Fluten«, »Handwerk« (über das Schreiben) oder »Coda« (der ausklingende Teil der Komposition, der noch einmal das ganze Werk zusammenfassende Charakterzüge trägt). Durchgehende Musikalität der Sprache kennzeichnet alle Texte Overaths.
Oft geht es beim Schreiben um Lust, sicher auch um Broterwerb, und manchmal ist es Therapie: Die Autorin gibt persönliche Einblicke in die Schreibarbeit, schärft dabei auch unsere eigene Aufmerksamkeit und vermittelt so eine ganz wesentliche Fähigkeit, die uns allen ob der Omnipräsenz von Fernsehen und Internet verloren zu gehen droht: Gegen medial vermittelte Bilder – wieder – sehen lernen. Angelika Overath ist eine Meisterin der literarischen Reportage. Bei aller Unterschiedlichkeit der literarischen Topoi schafft sie einen eigenen, unverwechselbaren Stil und musikalisch-spielerisch den fließenden Übergang von der Reportage zur Literatur.