Vom Über- und Weiterleben
Im Kopf eine dichte Traurigkeit
Madeleine Thien und Vaddey Ratner über ein Kambodscha der Kindheit und der Roten Khmer
Wiener Zeitung, April 2015
Als Schuldkultur wird die westliche oft bezeichnet, als Schamkultur jene Ostasiens: die Scham sowohl von Tätern als auch von Opfern, über Misshandlung zu sprechen. Doch überall ist Erzählen ein Schritt zur Überwindung von Schrecken und Verlust.
Janie heißt die sensible Ich-Stimme in Madeleine Thiens Roman „Flüchtige Seelen“. Janie ist Neurowissenschafterin in Kanada. Als Hirnforscherin arbeitet sie mit ihrem Kollegen Hiroji an Fragen von Erinnerung und Gedächtnislücken. Durch Hirojis plötzliches Verschwinden wird sie mit ihrer eigenen, fragmentierten Vergangenheit konfrontiert. Zweimal musste sie eine andere Identität, einen neuen Namen annehmen: Lösche deine verrottete Vergangenheit, befahlen die Roten Khmer 1975, als sie ein elfjähriges Mädchen war; vergiss den Schrecken, sagt sie sich selbst nach 1979 in ihrer neuen Heimat Kanada. „In meinem Kopf herrscht eine dichte Traurigkeit.“ Janie kann nicht mit, aber auch nicht ohne ihre Vergangenheit leben.
Gegen das Vergessen
Madeleine Thien ist nicht Kambo-dschanerin, sondern Tochter sino-malayischer Einwanderer. In ihrem hochgelobten Debütroman „Jene Sehnsucht nach Gewissheit“ war sie berührend tief in ihre eigene südostasiatische Familiengeschichte getaucht. Mit zarten Bildern ist Thien Meisterin einer traumwandlerischen, manchmal lakonischen Poesie. Ihre klare Sprache ist sparsam, nuanciert und genau. „Meine Gedanken passen nicht mehr zusammen“: Thien montiert Orte und Zeitebenen ohne scharfe Schnitte, und beschreibt emotionale Zwischenreiche subtil. „Träume meines Bruders, die mich anwehten“: die verzweifelte erwachsene Janie gibt sich die Schuld am Tod ihres Bruders, der als Kind unter den Roten Khmer Opfer verhörte. Janie schlägt ihren eigenen Sohn Kiri und muss ihn seinem Vater überlassen.
Sie folgt ihrem Kollegen Hiroji, der seinen 1975 in Kambodscha verschwundenen Bruder sucht, und macht sich auf in das Land ihrer Jugend und des Schreckens. Es ist eine Reise gegen das Vergessen, ein Schreiben gegen die Auslöschung der Angehörigen, und ein Schritt zur Versöhnung mit den guten und bösen Geistern in ihr. Fazit: ungemein berührend und empfehlenswert.
Im Schatten des Banyanbaums
Übersetzungen aus dem Kambodschanischen selbst sind rar. Vaddey Ratner schreibt wie Thien auf Englisch. Ihr Debüt „Im Schatten des Banyanbaums“ ist die literarische Aufarbeitung ihrer Kindheit, angereichert mit dem Wissen von später: Die gebürtige Khmer studierte in den USA südostasiatische Geschichte und Literatur.
Ratner lässt ein Kambodscha noch vor den Killing Fields auferstehen, die brüchige Idylle einer so kultivierten wie privilegierten Familie, die weit vom Krieg entfernt scheint, bis mit der Eroberung Phnom Penhs der Fanatismus revolutionärer Tyrannei hereinbricht. Aus der Perspektive ihres Alter Ego, eines kleinen Mädchens, schildert Ratner das Schicksal von Stadtbewohnern unter den schwarzen Geistern – den Roten Khmer: Vertreibung aufs Land, dann Zwangsarbeit, Hunger, Krankheit, Wahnsinn. Die beklemmende Utopie scheint noch vor „1984“ wahr geworden: Familienbindungen werden ausgetrieben, Traditionen, Bildung, Kultur, Religion. Als adelige Intellektuelle sind die Familienmitglieder besonders bedroht. Der Vater der Ich-Erzählerin war Dichter. Sie empfindet die Welt zwar nicht mit seinen Augen, jedoch über seine Worte, jene eines gebildeten Erwachsenen – was die Unmittelbarkeit der Kinderperspektive mitunter schwächt.
Elend und Verlust
Kern der Erzählung ist die Trauer um Verluste, vor allem jener des Vaters: Er stellt sich den Roten Khmer, als ihn die kleine Ich-Erzählerin ungewollt verrät.
Drastische Schilderungen der Gräuel bleiben ausgespart. Poesie und Schönheit sind schiere Überlebensmittel im kaum benennbaren Schrecken. Eine verschwenderische Bilderflut in einem Bericht von Elend und Verlust mag nicht jedermanns Sache sein. Sie wollte weniger der Gewalt als den Verstorbenen und der Menschlichkeit eine Stimme geben, sagt Ratner. Dies ist sowohl ihr als auch Madeleine Thien gelungen.
Madeleine Thien: Flüchtige Seelen. Roman. Aus dem Englischen von Almuth Carstens.
Luchterhand, München 2014, 253 Seiten, 20,60 Euro.
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Vaddey Ratner: Im Schatten des Banyanbaums. Aus dem Englischen von Stephanie von Harrach. Unionsverlag, Zürich 2014, 380 Seiten, 22,60 Euro.