Poetische Standpauke zur Griechischen Tragödie
Nikos Dimou: Über das Unglück, ein Grieche zu sein
Wiener Zeitung sowie Glanz&Elend, Juni 2012
Ein Land steht am Pranger. Griechenland dominiert die Politik- und Wirtschaftsseiten, manchmal die Chronik, nur mehr selten das Feuilleton. Tatsächlich hat die Wirklichkeit die antike Tragödie längst eingeholt. »Über das Unglück, ein Grieche zu sein« – der Titel eines schmalen Bandes verheißt nur scheinbar brühwarme Polemik voll wohlfeiler Vorurteile eines boshaften Fremden. Es ist vielmehr das großartige poetische Pamphlet eines Griechen, das bereits 1975 in Athen erschien, dort 30 Auflagen erlebte und erst heuer auf Deutsch herausgekommen ist.
»Der Grieche sieht, wenn er sich im Spiegel betrachtet, entweder Alexander den Großen … oder zumindest Onassis. Niemals den Karagiosis.« Karagiosis, eine Schattenspielerfigur, die Laster und Tugenden eines Untertans verkörpert, der verschlagen, materialistisch ist, aber auch witzig und manchmal weise. Dimous scharfe Sätze schneiden schmerzhaft ins Selbstverständnis seiner Landsleute. »Wir erschaffen Mythen über uns selbst, und sind unglücklich, wenn wir dem Mythos nicht entsprechen«, meint Dimou. »Die Deutschen sind daran nicht unschuldig, wenn man bedenkt, wie Winckelmann & Co. die griechische Antike quasi neu erfunden und zu einem Idealbild der Vollkommenheit verklärt haben. Das ist eine schwere Bürde. Ich glaube, kein Volk könnte einem solchen Anspruch gerecht werden,« sagte er kürzlich. Nikos Dimou ist ein so kreativer wie streitbarer Zeitgenosse, Blogger. Er seziert das Land und seine Menschen, zerrissen zwischen glorreicher Vergangenheit und zerrütteter Gegenwart, zwischen Orient und Okzident, Mythen und der Realität. »Die Mythen können eine starke und tödliche Droge sein. Andere Länder haben das auch erlebt.« Krise, Chaos, Katastrophe, schließlich Katharsis?
»Ein Grieche nimmt die Realität prinzipiell nicht zur Kenntnis. Er lebt zweifach über seine Verhältnisse. Er verspricht das Dreifache von dem, was er halten kann. Er weiß viermal so viel, wie er gelernt hat.« Es sind trotzige Rufe aus dem eigenen ins eigene Land – und die Rufe sind hellsichtig, gerade weil sie keine tagesaktuelle Standpauke sind, sondern zum Ende der Obristenherrschaft vor bald 40 Jahren und dem Aufbruch zur Demokratie geschrieben wurden. Schon damals war es unangenehm für all jene Griechen, die die Diktatur als vom Ausland gelenkte Marionetten darstellten: Griechenland als ewiges Opfer – der Amerikaner damals, der Europäer heute, der Türken, Römer einst. »Wann immer ein Grieche von Europa spricht, schließt er Griechenland automatisch aus. Aber wenn ein Ausländer von Europa spricht, ist es undenkbar für uns, dass er Griechenland nicht mit einschließt.« Klar, dass nicht alle Landsleute Dimous Sätze witzig finden und er als Nestbeschmutzer verunglimpft wird. Aber es kann nicht nur Masochismus sein, dass das Buch in Griechenland selbst 100 000 mal gekauft wurde. Worin gleich ein anderer Vorwurf liegt: was sich so gut verkauft, kann weder literarisch noch sonst wie wertvoll sein. Doch das Büchlein erschöpft sich nicht in Provokation. Der streitbare Intellektuelle hat 60 Bücher geschrieben, ist ein kreativer Zeitgenosse, Blogger, und nur scheinbar als Kronzeuge für jene nützlich, die immer schon (zumindest seit 2008) wussten, wie die Griechen so sind. Abseits der aktuellen Krise – sprich: Tragödie – ist das Buch auch ein Spiegel für uns manchmal selbstgerechte Europäer, die wir gerne in den Süden hinunterblicken, einmal als Sehnsuchtsort, dann als idealisierte Wiege von Weisheit und Demokratie, und nun als gescheiterter Staat korrupter Bankrotteure. »Die Griechen sehen ihren eigenen Staat, als wäre er eine türkische Provinz. Recht haben sie.«
Dimou hat in München studiert und schöpft aus 3000 Jahren griechischer Kultur, aus dem Fundus europäischer Literatur, bis hin zu Karl Kraus: »Die Bürokratie ist die Krankheit, für deren Therapie sie sich hält«. Ob das nur für Hellas gilt? Über den poetischen, gar den politischen Wert der literarischen Kurzform lässt sich trefflich streiten, haben wir mit Günter Grass erst kürzlich wieder erlebt, der Israel ein Gedicht geschenkt hat, und nun auch Griechenland eins schrieb. Doch gute Kurzform ist der Doppel- und Vieldeutigkeit besonders zugänglich. Dimou spielt sich in den satirischen Kürzestkapitel vom Scheitern nicht als moralische Autorität auf. Fast jedes der 193 Axiome und Aphorismen ist als Zitat geeignet. Es ist ein Büchlein voll Lebensweisheit.
Nikos Dimou: Über das Unglück, ein Grieche zu sein. Deutsch von Maro Mariolea. 72 Seiten, 7.95 € (D)
Verlag Antje Kunstmann, München 2012