Andrea Levy: Das lange Lied eines Lebens

Ein Stück Stolz

Andrea Levy: Das lange Lied eines Lebens

Wiener Zeitung, Oktober 2011

Mit ihrem Millionenbestseller „Eine englische Art von Glück“ („Small Island“) hatte Andrea Levy die Leser durch die einfühlsame wie analytische Schilderung westindischer Einwanderer in London gefangen genommen. Sie wurde dafür auch mit renommierten Preisen ausgezeichnet.

In ihrem fünften Roman geht Levy noch ein Stück tiefer in ihr Familienerbe, nach Jamaika zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Unrecht, Sinnlichkeit, Sex, Aufbegehren sind die Ingredienzien der Autobiographie von July, Levys fiktiver Heldin. Diese ist die Frucht der Vergewaltigung einer rebellischen Sklavin durch einen weißen Aufseher auf der Zuckerrohrplantage Amity(„Freundschaft“).

DSC05098Im zarten Alter von sieben Jahren wird das Mulattenmädchen July ihrer Mutter entrissen, um hinfort der Schwester des Besitzers unter dem neuen Namen Marguerite im Herrenhaus zu dienen, bis die Plantage im Zuge von Aufständen zum Pulverfass wird.

Von Harriet Beecher-Stowe („Onkel Toms Hütte“) bis Alex Haley („Roots“), von Alice Walker bis Toni Morrison: Die Erfahrungen der Sklaverei haben die englischsprachige Literatur mitgeprägt. Alle genannten Autoren haben einen US-amerikanischen Hintergrund. Wenige Romane behandeln die dunklen Kapitel europäischer Sklaverei, eine Epoche, die etwa den Hunger auch unserer Vorfahren nach Süßem gestillt hat.

Levy hat kein Opferbuch geschrieben. Ihr selbst erklärtes Ziel war es, „allen mit Sklavenvorfahren eine Stimme, ein Stück Stolz zurückzugeben“. July selbst ist folgerichtig auch die Ich-Erzählerin in „Das lange Lied eines Lebens“ (engl. „The Long Song“). Sie beweint ihr Schicksal nicht, sondern nimmt es stattdessen in die Hand. Sie wendet sich oft unmittelbar an die Leser, führt sie durchs Herrenhaus, über die Plantage, in manchmal überreichen Adjektivreihungen in die lautmalerisch-bunt-olfaktorisch-sinnliche Fülle der karibischen Insel, und durch die Wechselfälle ihres Lebens nach der Befreiung 1838.

Die direkte Ansprache kontrastiert gelegentlich mit einem abrupten Perspektivenwechsel hin zu einer allwissenden Erzählerin. Die Personen geraten in der dichten Atmosphäre überbordender Lebendigkeit etwas holzschnittartig stereotyp, werden dann aber wiederum grell bunt eingefärbt, indem sie etwa über Körperteile possenhaft beschrieben werden. Dennoch oder gerade deshalb bleiben manche Charaktere flach: „In einer dunklen Hütte, kaum größer als eine Hundehütte, wurde sie von einer dicken Negerin gepflegt, die Marys schwachen, schwitzenden, ächzenden Körper genauso scharf bewachte wie ein Hund seinen Knochen“. Levy schreibt für ein Massenpublikum, das durch eine blumig-pralle Sprache gefangen sein will.

Gut recherchiert, ist die Hommage an einstige Plantagensklaven und ihren Kampf um Emanzipation dennoch gelungen. Levy hat ihnen nicht nur Würde und eine Stimme verliehen, sondern auch Charme, Humor, Liebe, Widersprüche und Schwächen.

Dass manches wie ein vage norddeutsch verortetes Unterschichtidiom klingt, ist weniger der guten Übersetzung geschuldet, als der Schwierigkeit, die Nuancen des Sklavenenglisch auf Deutsch wiederzugeben.

 

Cover: Das lange Lied eines Lebens

Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2011
360 Seiten, 19,99 EUR
This entry was posted in Rezensionen. Bookmark the permalink.

Kommentare sind geschlossen.