Rauschhafter Ritt
Morphin
Szczepan Twardochs literarische Droge
Wiener Zeitung, Oktober 2014
Szczepan Twardoch ist ein rauschhafter Stadt- und historischer Kriegsroman gelungen
Warschau, Oktober 1939. Im “Paris des Ostens” hat die Wehrmacht die Herrschaft übernommen, gefolgt von SS und Gestapo. Die Stadt weiß noch nicht, wohin die Reise geht. Der Leser glaubt es zu wissen, ahnt es in jedem Satz. Der dreißigjährige Protagonist will es nicht wahrhaben: Konstanty Willemann, Leutnant der Reserve, hat kaum gekämpft gegen die deutsche Invasion, und hat sich dann rechtzeitig abgesetzt, um der Gefangennahme zu entgehen. Mit seiner polnisch-deutsch-schlesischen Herkunft hat er keine eindeutige nationale Identität, doch das ist nicht sein größtes Problem. In Vorkriegszeiten war er ein Lebemann, und auch jetzt, in einer zusammenbrechenden Welt, will er oben schwimmen. Es war nicht sein Krieg, aber es ist auch nicht mehr sein Friede in diesem herbstlichen Warschau. Er mag „weder Militär noch Pferde noch Uniformen noch Gewehre“, er sei, sagt er über sich, „Gentleman, Verschwender, Hurenbock und Morphinsüchtiger“.
Konstanty, Kostia, Kostek, Kostu ist, milde formuliert, keine konsistente Persönlichkeit. Er ist orientierungslos, getrieben, sarkastisch, abhängig von Drogen, Alkohol und Frauen, inklusive seiner eigenen Mutter. Seine Angetraute Hella, aus bestem polnisch-patriotischem Haus und Mutter seines kleinen Sohnes, ist sauber, korrekt – und für Kosta einmal langweilig, dann wieder unerreichbar begehrenswert. Die jüdische Dauergeliebte Salomé ist seine Kurtisane, und selbst Morphin-süchtige Prostituierte. Das klingt schablonenhaft, und der aberwitzige Plot tanzt auch manchmal am Rande des Klischees, doch ist Autor Szczepan Twardoch zu wortgewaltig, um sich nur in überdrehter, surrealer Kolportage zu gefallen.
Der politisch unkorrekte Antiheld entzieht sich seinen Pflichten als Patriot, Ehemann, Vater, und reißt den Leser mit literarischem Morphin in einen rauschhaften Bewusstseinsstrom. Meist erzählt Konstanty selbst: expressiv, ausschweifend, schnoddig, manchmal kleinlaut, taumelnd. Gerade dann kippt die Perspektive, gesellt sich eine weibliche Über-Ich-Stimme dazu, eine weitere Erzählinstanz, immer nahe an ihm, an seiner Seite, über ihm. Der Leser wähnt sich in einem rasanten Filmdrehbuch.
In der Schurkerei der Formulierungen des Antihelden, in einer Sprache jenseits aller Moral macht der Autor die Welt in jenem Warschau des dunklen Herbstes 1939 erfahrbar. Twardoch hat genau recherchiert. Zusammen mit dem Protagonisten hetzt der Leser über die aufgerissenen Straßen, taumelt er durch die Bars und versteckten Winkel einer Stadt zwischen Lähmung, Unterjochung, wegduckender Anpassung und Widerstand.
Geschichtsträchtiges Terrain, eine traumatisch aufgeladene Zeit, Drogen, Sex und eine höchst ambivalente, widersprüchliche Hauptfigur: Diese Ingredienzien sind nicht ganz neu. Jonathan Littell etwa verband 2006 in „Die Wohlgesinnten“ eine fiktive Biographie mit realen Ereignissen und Personen – und entfachte eine lebhafte Kontroverse darüber, ob es recht und billig sei, dass ein Nachgeborener ohne eigene Erfahrungen belletristisch-brilliant über jene Zeit schwadronieren dürfe.
Der 35jährige Szczepan Twardoch, wie sein Protagonist schlesischer Herkunft, untergräbt polnische Geschichtsmythen und entfachte Polemiken über die heroische Opferrolle im Krieg 1939 bis 45, über Helden und Märtyrer. Deutschland etwa habe sich ganz anders mit seiner Geschichte und Identität konfrontieren müssen, meint Twardoch: „Die Mehrzahl der Polen braucht eine Art Psychotherapie, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen – was sie immer noch nicht können. Aber das ist nicht meine Aufgabe“. Lieber erzählt er rauschhaft, vital, abgründig, mit der eruptiven Kraft einer fiktiven, plotgesteuerten Geschichte, um dann wieder essayistische Reflexionen über das Menschsein in Zeiten des Wahnsinns einzustreuen.
Neben dem erwähnten Jonathan Littell wurde Szczepan Twardoch schon mit Alfred Döblin verglichen, mit Alexis Jenni („Die französische Kunst des Krieges“), Witold Gombrowicz (seiner scheinbar unernsten Darbietung existenzieller Probleme wegen) oder sogar mit James Joyce. Morphin ist ein rauschhafter Stadt- und historischer Kriegsroman. Twardoch lässt Willemann seinen toten deutschen Vater treffen, und schickt ihn im Dienst des Widerstandes schließlich in Vaters deutscher Uniform auf eine so konspirative wie surreale Mission nach Budapest. Läuterung, Katharsis, Erlösung gegen Schluss? Weit gefehlt.
Historiografie kann nicht alles beantworten. Der Roman als Erkenntnisinstrument, der Handlungsspielräume auslotet? Szczepan Twardoch stellt viele Fragen literarisch, über Mut, Mitläufertum, Kriegsgewinnler, Gewissenskonflikte und menschliche Abgründe jenseits heroischer Taten. Eine neue Generation von Polen fühlt sich nicht an verordnete oder national kaum angetastete Geschichtsmythen gebunden. Twardoch bürstet die Mythen gegen den Strich, untergräbt sie. Und er wurde mit dem aberwitzigen Gewaltritt über 580 Seiten zum Shooting Star der polnischen Literatur.
Szczepan Twardoch: Morphin
Roman
Deutsch von Olaf Kühl
Rowohlt Berlin 2014